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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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Er blinzelte angesichts des Schneetreibens und verlor die Gestalt wieder aus den Augen. Doch ehrlich gesagt hatte Andreas für den oder die Unbekannte auch keinen Blick über. Denn in diesem Moment ertönten die Kirchenglocken Perchtals. Ihr Klang war hell und rein.
    Mitternacht.
    Andreas war, als halte die Natur den Atem an. Selbst der Wind verebbte. Doch nur, um im nächsten Moment umso mitleidloser auf sie herabzufahren. Kalte Böen packten sie und rüttelten an ihrer Kleidung. Hagelkörner, dick wie Erbsen, prasselten plötzlich auf sie nieder. Andreas hörte, wie Elke vor Schmerzen aufschrie. Aus der Bergwelt im Osten walzte ein tiefschwarzes Wolkengebirge über den Ort. Mit ihm kam ein Brausen und Heulen, das wie hundertfach verzerrte Schreie an ihre Ohren brandete. Graupelschleier jagten vom Himmel herab, peitschten über Dächer und Straßen und wirbelten gleich langen Greifarmen auf sie zu. Um Gottes willen, was war das?
    »Weg hier!«, schrie Andreas lauthals. Er packte Elke am Arm und stürmte mit ihr in den Schutz der kleinen Baumgruppe. Hinter ihnen schien die Schneefläche förmlich zu explodieren und sich zu einer grauschwarzen Wand aus Eis und Schnee aufzutürmen. Die Bäume schwankten bedrohlich, unter splitternden Geräuschen brachen ganze Äste ab, und immerzu mussten sie sich vor Schneelagen in Acht nehmen, die mit donnerndem Getöse auf sie herabstürzten. Endlich erreichten sie den alten Bootsschuppen. Im Eingang standen Robert und Miriam, die verängstigt die Laterne emporhielten und nach ihnen riefen. Andreas stürmte gemeinsam mit Elke an ihnen vorbei ins Innere.
    »Schnell, wir müssen uns hier verbarrikadieren!«, brüllte er Robert zu. Der überwand seine Verblüffung, und gemeinsam stemmten sie sich gegen den offen stehenden Flügel und verrammelten die Türöffnung. Jetzt erreichte der unheimliche Sturm auch den alten Bootsschuppen. Die Wände ächzten unter der Belastung, und das Gebälk über ihren Häuptern knarrte, so als stünde das Dach kurz davor, in sich zusammenzustürzen. Andreas schnappte sich eines der Ruder und verkeilte die Tür, als das verdammte Radio wieder ansprang. Trotz des allgegenwärtigen Jaulens und Heulens draußen waren schrille Kinderstimmen zu hören, die panisch ein Weihnachtsliedchen trällerten. Schneeflöcklein, Weißröcklein, jetzt kommst du geschneit … Es knackste, und der Refrain wiederholte sich wie eine Platte mit Sprung. Jetzt kommst du geschneit … Krch … Jetzt kommst du geschneit … Krch … Jetzt kommst du geschneit … Eine Stichflamme züngelte aus dem Gerät, und das Radio verstummte. Andreas wusste, dass der eigentliche Schrecken jetzt erst begann.
    Niklas lag vollständig angezogen auf seinem Bett, dämmerte in einer Mischung aus Müdigkeit und Frustration vor sich hin und schreckte immer wieder auf, wenn er glaubte, Geräusche vor der Zimmertür zu hören. Doch alles, was er wirklich vernahm, war das Säuseln des Windes, der durch die Ritzen des Fensters strich. Schwach drang von der gegenüberliegenden Straßenseite der Schein des beleuchteten Bäckereifensters in sein Zimmer und tauchte es trotz der Vorhänge in ein unheimliches Zwielicht.
    Ob sein Vater noch wach war? Er befürchtete es. So seltsam wie heute Abend hatte er ihn nur einmal erlebt, nämlich damals, als seine Mutter durchgedreht war. Niklas biss die Zähne aufeinander. Eigentlich sprachen sie nicht häufig miteinander. Sein wortkarger Vater beschränkte sich stets auf das Wichtigste, so wie die meisten Männer im Ort. Aber gerade das machte das zurückliegende Gespräch mit ihm nicht besser.
    Ob der unheimliche Vortrag etwas mit seinem verschwundenen Bruder zu tun hatte? Vielleicht hatte Andy recht, und die fünf waren tatsächlich um Nikolaus vor 16 Jahren verschwunden. Aber sein Vater glaubte doch wohl nicht, dass er ihn mit Gruselgeschichten wie diesen Angst einjagen konnte? Obwohl … Niklas richtete sich angespannt auf. Das mit den Toten im Gefolge der Wilden Jagd war schon gruselig. Diese Geister auf dem Friedhof waren sehr real gewesen. Ebenso real wie Kinderbischöfe. Kinderbischöfe hatte es wirklich einst gegeben, auch wenn er das noch immer nicht so recht glauben konnte. Überhaupt war es verstörend, auf welche Weise sich heidnisches Gedankengut in die Bräuche der Region geschlichen hatte. Dabei sollte man meinen, dass Christentum und heidnischer Aberglaube einander ausschlossen. Doch das alte Buch hatte keinen Zweifel daran gelassen, zu welch seltsamen

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