Weisses Gold
abzulegen, und die anmaßenden Korsaren von Salé träumten weiter vom heiligen Krieg gegen die Christenheit. Sie dachten wehmütig an die Zeiten zurück, in denen ihre mächtige Flotte gemeinsam mit den immer noch schlagkräftigen Korsaren von Algier und Tunis der europäischen Schifffahrt schweren Schaden zugefügt hatte. In jenen Tagen hatte der Handel mit weißen Sklaven sehr viel höhere Erträge abgeworfen als der friedliche internationale Warenhandel.
Im Jahr 1790 starb Sidi Mohammed. Sein Nachfolger Suleiman II. hegte größere Sympathie für die Korsaren von Salé, obwohl er die von seinem Vater unterzeichneten Verträge nicht kündigte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging der neue Sultan so weit, seine deutlich geschrumpfte Korsarenflotte erneut loszuschicken, um Schiffe jener europäischen Länder anzugreifen, die Handel mit seinen Feinden trieben. In Europa ging die Angst um, dass Marokko wieder einen Krieg mit den christlichen Ländern beginnen könnte.
Aber die Korsaren von Salé mussten so wie die Sklavenhändler in anderen Teilen des Maghreb bald feststellen, dass sie endlich ihren Meistergefunden hatten. Im Sommer des Jahres 1816 – exakt hundert Jahre nach Thomas Pellows Verschleppung – mussten sie einen vernichtenden Schlag hinnehmen, von dem sie sich nicht mehr erholen sollten. Die Familie Pellow aus Cornwall übte späte Rache, indem sie ihnen einen Deus ex machina schickte, und dieser sollte der Geschichte der Sklaverei eine unverhoffte Wendung geben.
An der Spitze des Kampfes gegen die Barbareskenstaaten stand der exzentrische britische Admiral Sir Sidney Smith. Er kämpfte leidenschaftlich gegen die Versklavung von Europäern und hatte eine Bewegung ins Leben gerufen, deren Ziel es war, diesem Treiben ein für allemal ein Ende zu machen: Seiner Society of Knights Liberators of the White Slaves of Africa schlossen sich rasch einflussreiche Personen aus ganz Europa an. Als sich die gekrönten Häupter und Minister nach dem Ende der Napoleonischen Kriege im Jahr 1814 zum Wiener Kongress versammelten, um Europa neu zu ordnen, beschlossen Smith und seine Ritter, ebenfalls in die Hauptstadt des Habsburgerreiches zu reisen. Sie organisierten am Rand des Kongresses Diskussionsrunden und forderten eine militärische Unterwerfung der gesetzlosen Herrscher im Maghreb. »Diese schändliche Sklaverei widerspricht nicht nur der Menschlichkeit«, donnerte Smith, »sondern fügt auch dem Handel verheerenden Schaden zu.«
Es gelang Sidney Smith und seiner Gesellschaft, die Aufmerksamkeit auf ein Geschäft zu lenken, das in den vergangenen drei Jahrhunderten mindestens eine Million Europäer und Amerikaner die Freiheit gekostet hatte. Am größten war die Konzentration weißer Sklaven seit jeher in Algier. Zwischen 1550 und 1730 wurden stets etwa 25 000 europäische Sklaven in der Stadt festgehalten, und mitunter war ihre Zahl fast doppelt so hoch. In diesen knapp zwei Jahrhunderten lebten auch in Tunis und Tripolis immer etwa 7500 europäische Männer, Frauen und Kinder als Sklaven. Die Zahl der europäischen Sklaven in der Hauptstadt von Mulai Ismails Reich ist schwerer zu bestimmen, während besser dokumentiert ist, unter welchen Bedingungen diese Menschen festgehalten wurden. Die Zahl von üblicherweise 5000 Gefangenen, die europäische Ordensbrüder verzeichneten, wurde von Achmed es-Sajjani angezweifelt, der die tatsächliche Zahl mindestens fünfmal so hoch ansetzte.
Zur Zeit des Wiener Kongresses war die Sklavenpopulation im Maghreb auf etwa 3000 Menschen gesunken, doch Sir Sidney Smith wusste, dass dieser Rückgang eine neue Entwicklung war. Und ihm war klar, dass diese punktuelle Statistik nur einen Teil der Geschichte erhellte. Wie viele Sklaven in einem gegebenen Jahr in Nordafrika lebten, hing davon ab, wie hoch die Sterberate war, wie viele der Gefangenen zum Islam übertraten und wie viele freigekauft wurden. Die Ruhr, die Pest und die Zwangsarbeit töteten Tausende, so dass die Korsaren immer wieder in See stechen mussten, um für Nachschub zu sorgen. Auch der Freikauf von Sklaven trug dazu bei, den stetigen Zufluss an neuen Gefangenen in Gang zu halten. Zwei bis drei Jahrhunderte lang wurden jedes Jahr rund 5000 weiße Sklaven in den Maghreb verschleppt.
Die europäischen Regierungen lasen die von Smith aufgesetzte Petition mit Interesse, taten jedoch nicht mehr, als eine Resolution zu verabschieden, die jegliche Form der Sklaverei verurteilte. Das war ein schwerer Rückschlag für
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