Weisses Gold
hinausgezogen, obwohl er schon die Lichter seines Hauses vor Augen hatte. Hier verloren Kapitän Ali Hakem und Admiral el-Mediuni ihre Schiffe. Und hier triebThomas Pellow in den Wellen, bevor ihn Korsaren aus dem Wasser fischten.
Ich kämpfe mich die schlammige Uferbank des Estuars hinauf und betrete die Stadt durch das Bab Mrisa, eines der befestigten Tore in der massiven Steinmauer. Vor drei Jahrhunderten schleppten sich die erschöpften europäischen Sklaven über diesen Weg – Männer, Frauen und Kinder, deren Schritte durch das Gewicht ihrer eisernen Ketten und Fußfesseln gebremst wurden. Schwarze Sklaventreiber trieben sie zum Marktplatz im Suk el-Kebir, wo jede Woche eine Sklavenauktion stattfand.
Ich folge ihrem Weg ins Verhängnis und kämpfe mich durch die Menschenmenge in den engen Gassen, die zum Marktplatz führen. In Salé scheinen alle Menschen in dieselbe Richtung zu strömen, und im Herzen der Stadt pulsiert das stoßende, schreiende, drängelnde Leben. Mütter drücken ihre Babys an sich, ein Esel wird durch das Gedränge getrieben. Die Menschenmenge trägt mich weiter, bis der Strom an einer Engstelle ins Stocken gerät. Dort steigt vom Stand eines Schlachters ein scheußlicher Gestank auf, der sich mit dem Geruch von Kümmel und ein wenig zerstoßener Minze mischt. Inmitten dieses Chaos, in dem die Ellbogen wie Ruder eingesetzt werden, preisen die Händler ihre Waren an. Eine silbrig glänzende Makrele wird aus einem Korb genommen, und ein Wasserverkäufer läutet seine Glocke.
Durch dieselben engen Gassen wurden einst unter Stößen und Schlägen die europäischen Sklaven getrieben. Ein letzter Knuff beförderte sie in den Suk el-Kebir, an dem alle Gassen der Stadt zusammenlaufen. Der Marktplatz sieht heute nicht viel anders aus als im 17. Jahrhundert. Ein paar kümmerliche Bäume bieten Schutz vor der Mittagssonne, aus einem Brunnen läuft Wasser auf die Bodenplatten. Im Suk el-Kebir kann man so ziemlich alles kaufen: Plastiksiebe, ein gegrilltes Hähnchen, einen Strauß Nelken. Vor 300 Jahren wurde hier nur ein einziges Produkt angeboten: Sklaven zum Stückpreis von etwa 35 Pfund.
Thomas Pellow und seinen Leidensgefährten stand ein noch schlimmeres Schicksal bevor als den Gefangenen, die in Salé versteigert wurden. Sie wurden zur halbfertigen Palastanlage von Meknes gebracht, wo sie aus Stampferde ihr Grabmal errichteten, eine derart gewaltige Nekropole, dass es keinem Erdbeben und keinem Krieg gelang, sie wieder vom Antlitz der Erde zu tilgen. An diesem Sammelsurium verfallenerLustpaläste ist etwas Ehrfurcht gebietendes. Sultan Mulai Ismail ließ eine Königsstadt errichten, die derart gewaltig war, dass sie auch heute noch einen bleibenden und zugleich beängstigenden Eindruck beim Besucher hinterlässt.
Die marokkanischen Dichter und Chronisten, die in diesem Palastkomplex den krönenden Abschluss von Mulai Ismails Herrschaft sahen, priesen die Größe und den Glanz dieser Stadt. »Wir haben alle Ruinen des Orients und des Okzidents besucht«, schrieb einer von ihnen, »aber wir haben nichts gesehen, was diesem Palast gleichkäme.« Derselbe Chronist meinte: »Unser Sultan hat sich nicht damit begnügt, einen oder zehn oder zwanzig Paläste zu errichten. In Meknes gibt es mehr Monumente als in der gesamten übrigen Welt.«
Als bereits die Dunkelheit in die verfallenen Gassen und Durchgänge kriecht, schlendere ich durch die verlassenen Randbezirke dieser einst prunkvollen Palastanlage. Vor langer Zeit wohnten in diesen mit Kuppeldächern geschmückten Residenzen die Eunuchen und Wesire des Sultans. Hier stolzierte die schwarze Garde unter der glühenden nordafrikanischen Sonne einher, hier schlugen und peitschten die Wärter die europäischen Sklaven.
Diese zerbröckelnden Gemäuer kosteten tausende Gefangene das Leben: Männer, Frauen und Kinder aus ganz Europa. Wir werden nie erfahren, wie viele Menschen genau hier starben, wie viele Sklavenleichen unter den gewaltigen Befestigungsmauern aus Stampferde begraben liegen. Sie sind für immer verschwunden, ihre Gebeine wurden vom ungelöschten Kalk verbrannt.
Sultan Mulai Ismail wusste, dass Tote keine Geschichten erzählen. Doch er konnte nicht ahnen, dass Thomas Pellow 23 Jahre überleben und nach Hause zurückkehren würde, um die abenteuerliche Geschichte seines Lebens als Sklave im maghrebinischen Königreich zu erzählen.
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Anmerkungen und Quellenhinweise
Das vorliegende Buch beruht weitgehend auf
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