Weißes Leuchten (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
der städtischen Polizei gemeldet?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht verstehst du’s besser, wenn ich’s dir erklärt habe. Jetzt komm schon.« Er hievte die Gitarre auf den Rücksitz. Ich öffnete die Wagentür und machte es mir in dem tiefen fleischfarbenen Ledersitz neben ihm bequem. Wir klapperten mit lautem Getöse über die Zugbrücke am Bayou Teche und verließen die Stadt auf der East Main. Er hob einen Pappbecher vom Wagenboden und trank daraus. Ein vertrautes Aroma stieg mir in der warmen Luft in die Nase.
»Hast du dir selbst für heute einen Dispens erteilt?« sagte ich.
»Ich predige gegen Trunkenheit, nicht das Trinken an sich. Das ist ein ziemlicher Unterschied.«
»Wo fahren wir hin, Lyle?«
»Es ist nicht weit. Gleich da drüben«, sagte er und deutete über ein Zuckerrohrfeld hinweg auf eine eingefallene Scheune, eine verrostete und reglos stehende Windmühle und ein paar alte Ziegelfundamente, die einst ein Haus getragen hatten. Das Feld hinter der Scheune war ungepflügt, und ein halbes Dutzend Ölbohrtürme verteilten sich darauf.
Wir bogen von der Landstraße auf einen unkrautüberwucherten unbefestigten Weg, der nach hinten zu der Scheune führte. Lyle machte den Motor aus, kramte unter dem Sitz eine kleine Flasche Bourbon hervor und schraubte den Verschluß mit einem Daumen auf. Sein Haar, das er im Fernsehen immer in einer wellig geföhnten Tolle trug, die mich an ein Waschbrett erinnerte, war windzerzaust und hing ihm lose in die Augen.
»Ein Drittel davon gehört mir, auch von den Ölquellen«, sagte er. »Aber ich komme nicht gern hier raus. Ganz bestimmt nicht.«
»Warum sind wir dann jetzt hier?«
»Du mußt dahin zurück, wo die Drachen leben, wenn du sie loswerden willst.«
»Einen Moment, Lyle. Ich bemühe mich schon die ganze Zeit, dir klarzumachen, daß ich durchaus Mitgefühl habe für die Probleme, die ihr in eurer Familie in der Vergangenheit hattet, aber jetzt geht es mir nur um den Mord an einem Polizisten.«
»Als Drew gestern abend von ihrem Amnesty-International-Treffen zurückkam, fiel ihr auf, daß das Licht auf der hinteren Veranda nicht mehr an war. Sie betrat trotzdem das Haus, und da stand in der Dunkelheit ein Kerl in der Küche und starrte sie an. Er hatte etwas in der Hand, einen Schraubenzieher oder ein Messer. Sie rannte durch die Haustür wieder raus und zum nächsten Nachbarn, wo sie erst Weldon zu erreichen versuchte. Dann hat sie mich in Baton Rouge angerufen.«
»Warum hat sie nicht die Cops geholt, Lyle?«
»Sie glaubt, sie müsse Weldon vor irgendwas schützen.«
»Vor was?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Keiner von den beiden ist so richtig davon überzeugt, daß es mir mit meiner Hinwendung zur Religion ernst ist. Die denken eher, daß ich ein paar LSD-Trips zuviel geworfen habe, als ich aus Vietnam zurückkam. Was bedeutet, daß sie mir nicht unbedingt alles anvertrauen. Aber das spielt keine Rolle. Ich weiß, wer der Bursche war.«
»Dein Vater?«
»Ich zweifle keinen Augenblick dran.«
»Alle anderen scheinen das aber zu tun, mich eingeschlossen.«
Er nippte an der Flasche und richtete seinen Blick auf die rote Sonne über dem Bayou. Der Wind war warm, und aus den Ölquellen drang der schweflige Geruch von Erdgas.
»Was sagt denn Drew? Wie sah der Mann aus?« fragte ich.
»Sie hat sein Gesicht nicht gesehen.«
»Ich werde morgen mal mit ihr reden. Jetzt muß ich aber wirklich nach Hause.«
»Okay, ich erzähle dir auch noch den Rest. Was du damit anfängst, bleibt ganz dir überlassen, Lieutenant. Aber bei Gott, erst mal wirst du zuhören.«
Die Narben, die wie Wassertropfen die eine Gesichtshälfte sprenkelten, wirkten im Licht der Abendsonne wie glattgeschmirgelte rote Glassplitter.
Kapitel 5
Und so hat Lyle es mir dann erzählt, oder vielmehr habe ich mich bemüht, es zu rekonstruieren.
An einem brütend heißen Julinachmittag war ihre Mutter wutentbrannt von ihrer Arbeit als Kellnerin in einem Biergarten nach Hause gekommen. Ohne sich umzuziehen, hatte sie in ihrer rosa Arbeitskleidung damit begonnen, auf dem alten Baumstumpf im Hinterhof Hühner zu schlachten, und rupfte sie in kochendheißem Wasser. Der Vater, Verise, kam später heim, als er eigentlich sollte, parkte seinen Pickup neben der Scheune und kam mit nacktem Oberkörper durchs Tor gelaufen, das zusammengeknüllte Hemd in die Gesäßtasche seiner Levis gestopft. Schultern, Brust und Rücken waren ungleichmäßig bedeckt von Schweiß und schwarzem
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