Weit Gegangen: Roman (German Edition)
die Menschen doch bloß krank. Wir warten nur darauf, dass wir sterben. Wenn wir bleiben, fangen wir uns bloß irgendwas ein und gehen vor die Hunde. Wir sind alle Teil desselben Sterbens, nur dass du und ich langsamer sterben als die anderen. Da können wir genauso gut losziehen und kämpfen und schneller getötet werden.
In jener Nacht hatte ich das Gefühl, dass Achor Achor wahrscheinlich recht hatte. Ich sagte aber nichts. Ich starrte die roten Wände unserer Hütte an, sah das Feuer schwächer werden, bis wir im Dunkeln lagen und unser Atem kälter wurde.
XXI.
Es ist Zeit, das Krankenhaus zu verlassen. Sie haben mich zum Narren gehalten. Julian hat sein Versprechen vergessen. Er ist fort. Auch Achor Achor und Lino sind fort. Ich gehe auf die neue Krankenschwester an der Aufnahme zu, die mit der Wolke aus gelbem Haar.
»Ich gehe jetzt«, sage ich.
»Aber Sie sind noch nicht behandelt worden«, sagte sie. Sie ist ehrlich erstaunt, dass ich nach nur vierzehn Stunden gehen möchte.
»Ich bin schon zu lange hier«, sage ich.
Sie setzt zu einer Erwiderung an, hält sich dann aber zurück. Diese Information scheint ihr neu zu sein. Ich erkläre ihr, dass ich später wegen der Ergebnisse der Kernspintomografie anrufen werde.
»Ja«, sagt sie. »Sicher …«, und schreibt auf eine Visitenkarte eine Nummer, die ich anrufen könne. Seit ich in meiner Wohnung überfallen worden bin, hat man mir zwei Visitenkarten gegeben. Meiner Meinung nach habe ich weder das Krankenhaus um übertriebene Versorgung gebeten noch die Polizei um Heldentaten. Wenn alle aufwachen, Phil und Deb und meine sudanesischen Freunde, wird die Empörung groß sein, es wird viele Anrufe geben und diese Ärzte werden Drohungen zu hören bekommen.
Vorläufig jedoch ist es Zeit für mich zu gehen. Ich habe kein Auto und kein Geld, um ein Taxi zu bezahlen, also beschließe ich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es ist 3.44 Uhr, und ich muss um halb sechs auf der Arbeit sein, also verlasse ich die Notaufnahme durch die automatische Tür, überquere den Parkplatz und mache mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Ich werde duschen und mich umziehen und dann zur Arbeit gehen. Auf der Arbeit gibt es einen einfachen Verbandskasten, und ich werde meine Wunden, so gut es geht, verbinden.
Ich gehe die Piedmont Road hinunter. Die Straßen sind verlassen. Atlanta ist keine fußgängerfreundliche Stadt, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Die Autos rollen durch die klare Nacht und beleuchten die Straße fast so, wie sie es in den letzten Tagen unseres Marsches taten, vor Kakuma. Damals wie heute dachte ich beim Gehen darüber nach, ob ich weiterleben wollte.
Ich war blind, jedenfalls fast, als wir endlich in Kakuma ankamen. Während jenes Marsches gab ich mich keiner der Illusionen hin, die ich auf dem Weg nach Äthiopien noch gehabt hatte.
Es war das Ende des schlimmsten Jahres. Es war ein Jahr des Nomadenlebens. Nach dem Gilo River kam Pochalla, dann Golkur, dann Narus. Banditen, Bombenangriffe, noch mehr Jungen gingen verloren und schließlich, eines Morgens, wachte ich auf und konnte nicht mehr sehen. Selbst der Versuch, die Augen zu öffnen, verursachte unendliche Schmerzen.
Einer meiner Freunde berührte meine Augen. – Die sehen nicht gut aus, sagte er. Es gab keine Spiegel in Narus, also musste ich ihm glauben, dass meine Augen krank aussahen. Bis zum Nachmittag bestätigte sich diese Diagnose. Es fühlte sich an, als habe man mir Sand und Säure unter die Augenlider gegossen. Wir waren vorübergehend in Narus, es lag etwa hundert Meilen nördlich von Kenia, aber das Klima war ähnlich und roter Staub lag in der Luft.
Ich wartete darauf, dass meine Augen abheilten, aber es wurde nur noch schlimmer. Ich war nicht der einzige Junge, der die sogenannte nyintok bekommen hatte, Augenentzündung, aber während es den anderen nach einigen Tagen wieder besser ging, waren meine Augen nach fünf Tagen so geschwollen, dass ich sie nicht mehr aufbekam. Die Ältesten empfahlen verschiedene Arzneien, und es wurde viel Wasser auf meine Lider gegossen, doch der Schmerz hielt an, und ich verlor alle Hoffnung. Im Südsudan während eines Krieges blind zu sein, würde sehr schwierig werden. Ich betete zu Gott, er möge sich entscheiden, ob er mir mein Augenlicht nehmen wolle oder nicht, ich wollte nur, dass der Schmerz aufhörte.
Eines Nachts, als wir alle unter unseren provisorischen Schutzdächern lagen – es gab keine richtigen Unterkünfte in Narus –, hörten wir das
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