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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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einen Becher Wein zu seinen Füßen. Aus dem Dorf hörte ich Gesang – der Chor übte dasselbe Kirchenlied, das er vierhundertmal am Tag sang. Hühner gackerten und Hähne krähten, Hunde jaulten und versuchten, sich durch Körbe zu fressen, um an das Essen der Menschen zu kommen. Ein runder heller Mond hing über Marial Bai, und ich wusste, dass die jungen Männer des Dorfes losziehen und Unsinn machen würden. Nächte wie diese waren lange Nächte, in denen es bei dem Trubel allenthalben fast unmöglich war zu schlafen, deshalb versuchte ich es gar nicht erst. Ich lag wach, lauschte, stellte mir vor, was die anderen machten, was jedes Geräusch zu bedeuten hatte. Ich versuchte, die Stimmen zu erraten, die Entfernung zwischen mir und dem jeweiligen Geräusch. Meiner Mutter zuliebe hielt ich die Augen die meiste Zeit geschlossen, aber einige wenige Male öffnete ich sie in solchen Nächten, und jedes Mal sah ich, dass auch meine Mutter die Augen geöffnet hatte. So auch in dieser Nacht, als ich plötzlich wieder warm und geborgen im Haus meiner Mutter war, nah an ihrem gelben Kleid, der Wärme ihres Körpers. Es war schön, zu Hause zu sein, und als ich meiner Familie von meinen Abenteuern erzählt hatte, waren alle ungemein fasziniert und beeindruckt.
    – Schau ihn dir an, sagte eine Stimme. – Träumt von seiner Mutter, sagte die Stimme. Es klang nach Deng. Ich hatte ihm von meiner Familie erzählt, ich hatte ihm so viel erzählt.
    Ich schlug die Augen auf. Deng war da, aber wir waren nicht in der Hütte meiner Mutter. Schlagartig wurde alles, was warm in mir gewesen war, kalt. Ich war draußen, schlief in dem Kreis der Jungen, und die Luft war schneidender als in jeder anderen Nacht unseres Marsches.
    Ich rührte mich nicht. Deng stand über mir, und hinter ihm war nicht das warme Karmesinrot und Ocker der Hütte meiner Mutter zu sehen, sondern bloß das verkohlte Schwarz des mondlosen Himmels. Ich schloss die Augen und wünschte wider besseres Wissen, ich könne kraft meines Willens zurück in den Traum finden. Wie seltsam, dass ein Traum einen wärmen konnte, wo der Körper doch genau wusste, wie kalt es war. Wie seltsam es war, hier zusammen mit all diesen Jungen zu schlafen, eng beieinander in diesem Kreis, unter einem lichtleeren Himmel. Ich wollte Deng dafür strafen, dass er nicht meine Mutter und meine Brüder war. Aber ohne ihn konnte ich nicht leben. Sein Gesicht jeden Tag zu sehen – das war der einzige Halt, den ich noch hatte.
    In der Gruppe waren viele Jungen, die seltsam wurden. Ein Junge wollte nicht mehr schlafen, weder nachts noch tagsüber. Viele Tage lang weigerte er sich zu schlafen, weil er immerzu sehen wollte, was passierte, jede mögliche Gefahr, die uns drohen mochte. Schließlich wurde er in einem Dorf zurückgelassen, in der Obhut einer Frau, die ihn auf den Schoß nahm, und nach wenigen Minuten war er eingeschlafen. Ein anderer Junge zog ständig einen Stock hinter sich her und ritzte damit eine Linie in die Erde, um nach Hause zurückzufinden. Er machte das zwei Tage lang, bis einer von den älteren Jungen ihm den Stock wegnahm und ihn auf seinem Kopf zerbrach. Ein anderer Junge glaubte, unser Marsch sei ein Spiel, und er hüpfte und rannte und neckte die anderen. Er wollte mit ihnen Fangen spielen und fand niemanden, der mitspielen wollte. Er hörte auf zu spielen, als er von einem Jungen, der es satthatte, ihn herumtollen zu sehen, einen Tritt in den Rücken bekam. Ein Junge namens Ajiing verhielt sich noch seltsamer: Er verwahrte alles, was er zu essen bekam. Er stopfte das Essen – hauptsächlich Erdnusspaste – in ein Hemd, das er mitgenommen hatte. Nur einmal am Tag tauchte er die Hand in das Hemd und holte etwas von der klebrigen Masse hervor, gerade so viel, dass die ersten drei Finger bedeckt waren. Die leckte er sauber und band das Hemd dann wieder zu. Er bereitete sich auf viele Wochen ohne Essen vor. Die meisten Jungen aber marschierten nur und sprachen wenig, weil es nichts zu sagen gab.
    – Der blaue Hund!
    Vier Tage, nachdem uns die Männer mit den Speeren hinaus aus ihrem Dorf gejagt hatten, sahen wir den blauen Hund wieder. Deng entdeckte ihn zuerst.
    – Ist das wirklich derselbe?, fragte ich.
    – Natürlich, sagte Deng und kniete sich hin, um ihn zu streicheln.
    Das Tier war jetzt viel dicker als beim letzten Mal. Wir konnten uns nicht erklären, wie der Hund so weit von zu Hause weglaufen konnte. War er uns die ganze Zeit auf den Fersen gewesen, ohne sich

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