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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Bauch nach war sie im dritten oder vierten Monat schwanger.
    Ich ließ die Hände sinken, und dann spürte ich Pings Arme um mich und das Kratzen ihres kahlen Kopfs an meiner Wange, und sie heulte in mein Ohr wie eine Seele, die ihren Körper verloren hatte.
    Als Frau in dieser Zeit konnte ich mir ganz gut vorstellen, warum sie weinte. Die Welt, die sich selbst wie Katzen in einem Sack bekämpft. Die Haufen unbestatteter Knochen, die am Westrand der Stadt in der Sonne verbleichen. Die ganz normale Grausamkeit … Und dann ihre Erleichterung. Sie musste sich schon lange den Kopf zerbrochen haben, wie sie es mir sagen sollte.
    Mit einem Schaudern dachte ich an die Schusswunde in ihrer Schulter und dankte Gott dafür, dass ich sie nicht bäuchlings über den Sattel geworfen hatte.
    Sie ließ mich ihren Bauch berühren. In der Mitte verlief eine Linie wie die Naht einer Ackerbohne, nur
dunkler. Und ihre Brustwarzen waren schokoladenbraun und breit.
    Ich fragte mich, wie ich sie je für einen Mann hatte halten können. Die Wahrheit ist, abgesehen von mir selbst hatte ich in den letzten zehn Jahren keine Frau getroffen, die nicht irgendjemandes Eheweib oder Eigentum gewesen war. Dann fragte ich mich, wie sie gelebt hatte, wo sie herkam, wer der Vater ist – aber es gab keine Worte, mit denen ich ihr meine Fragen hätte verständlich machen können.
    In diesem Moment fühlte sie sich in meinen Armen so klein an, dass es mir vorkam, als wäre ich ihre Mutter. Ich hielt sie und streichelte ihren babykahlen Kopf, bis ihr Schluchzen nur noch ein Schniefen und ich nicht mehr sicher war, ob sie schlief oder wach war.
    Am nächsten Tag lag Ruhe über dem Haus. Viel später als üblich kam Ping verschlafen die Treppe hinunter und sah mich nach den Überraschungen des letzten Abends beinahe schüchtern an. Mit der Aussicht auf neues Leben wirkte die Welt ein bisschen anders an diesem Morgen.

4
    ES WAR SPÄT IM JANUAR, als ich von meinem Besuch bei den Karibu-Hirten zurückgekommen war und erfahren hatte, dass Ping schwanger war. Mit Hilfe eines Kalenders und ein paar Mondskizzen brachte ich sie dazu, den wahrscheinlichsten Zeitpunkt der Empfängnis anzugeben, und dann errechneten wir, dass das Baby um Mittsommer herum kommen würde.
    Als der Frühling immer näher rückte, dachte ich darüber nach, ob ich nicht etwas mehr Land bestellen sollte, da wir ja bald zu dritt sein würden. Was ich reichlich besaß, war abgepacktes Saatgut. Im Laufe der Jahre war fast alles Nützliche aus den Läden in der Stadt geplündert worden, doch ein paar Reste waren übrig geblieben, und beim Farmbedarf in der Willow Street fand ich kistenweise abgepacktes Saatgut, das noch niemand angerührt hatte. Wenn man vor allem damit beschäftigt ist, den nächsten Tag zu überleben, dann liegt es nahe, seinen Bauch lieber heute als morgen zu füllen und sich ansonsten seiner Haut zu erwehren. Beides verlangt
genug ab, so viel steht fest, und deshalb trug sich wohl auch niemand groß mit dem Gedanken, Getreide anzubauen.
    Die Packen hatten Stempel mit längst überschrittenen Ablaufdaten, aber ich wusste, dass das Quatsch war. Ein Samenkorn behält seine Kraft. In der Wüste im Süden gibt es Pflanzen, deren Samen hundert Jahre und länger im Sand liegen und auf den Regen warten – auf den einen Moment, in dem sie wieder blühen können. Ich habe es nie gesehen, aber ich habe gehört, dass alle hundert Jahre der Regen kommt und die Ödnis aus Felsen und Sand zu einem wilden Durcheinander aus Blumen und Pflanzen wird.
    Auf dem Dach der Feuerwache ist ein Aussichtsturm, von dem aus man früher nach Waldbränden Ausschau gehalten hat. Einmal, nachdem ich noch mehr Saatgut aus dem Laden geholt hatte, kletterte ich die Sprossen hoch und spähte den Highway entlang, nach Osten, nach Westen. Er wand sich zwischen den Bäumen hindurch wie ein weißes Seidenband.
    Die Stadt sah verlassener aus als je zuvor. Ich versuchte, dankbar dafür zu sein. Natürlich vermisste ich es, wie es früher war, aber zwischen mir und »früher« lag eine unüberwindliche Kluft – ein Fluss aus Blut und Feuer.
    Es sind die Gewohnheiten, die einen aufrecht halten, wenn alles um einen herum zusammenbricht.
Mich einen Hüter des Gesetzes zu nennen, das Zaumzeug sauber und die Pferde in Form für den Morgenritt zu halten, war alles, was zwischen mir und der Hoffnungslosigkeit lag – zumindest, bis Ping kam. Mir war klar, dass das alles seit Charlos Tod zur Farce geworden war.
    Zum ersten

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