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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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ein richtiges Gespür für ihre Sprache entwickelt, aber wir hatten »Chai« für Tee und »Dinner« für so ziemlich jede Mahlzeit und einen Haufen anderer Wörter, die halfen, unser gemeinsames Leben zu vereinfachen, auch wenn wir weit davon entfernt waren, über Politik zu diskutieren oder uns unsere jeweiligen Lebensgeschichten zu erzählen – was mir ehrlich gesagt ganz recht war.

    Als sich zum ersten Mal das Baby in ihr bewegte, schnatterte sie etwas in ihrer Sprache, griff nach meiner Hand und legte sie auf ihren Bauch, aber ich konnte ums Verrecken nichts spüren, obwohl sie mit dem Finger auf meinem Arm herumtippte und mir klarzumachen versuchte, worauf ich achten sollte. Erst sechs oder sieben Wochen später konnte auch ich ertasten, wie sich etwas in dem kleinen Melonenbauch regte, und ab April konnte ich sogar konkrete Formen ausmachen, wobei ich mir nie richtig sicher war, ob es ein Fuß oder eine Pobacke oder ein winziger Kopf war, den ich da fühlte.
    Ping war sich sicher, dass es ein Mädchen war. Keine Ahnung, wieso. Sie verbrachte die Abende damit, Muster für ihre Kleider auszuschneiden. Außerdem schien die Kleine das Pianola zu mögen – sie wurde immer ziemlich munter, wenn ich eine der Rollen gespielt hatte. Ich hoffte, dass sie musikalisch sein würde und vielleicht herausbekam, wie man das Ding stimmte, denn die Lieder klangen kaum noch, wie sie früher einmal geklungen hatten.
    Dieses Frühjahr war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Ping blühte geradezu auf. Sie ließ ihr Haar wachsen, und ihr Bauch wurde größer und größer. Ich verbrachte viele glückliche Stunden in dem Laden für Farmbedarf, wo ich Saatgut für unseren Garten aussuchte. Diese kleinen braunen Päckchen gaben mir
ein hoffnungsvolles Gefühl, was die Zukunft betraf: Bohnen, Mais, Spinat, Kürbis, Steckrüben, Radieschen, Melonen, Erbsen, Tomaten, Zucchini, Kohl, Mangold. Beim ersten Tauwetter grub ich den Boden mit Asche und Pferdemist um, und ich dachte, zum Teufel, lass uns auch ein paar Blumen pflanzen, also holte ich mir einen ganzen Haufen: Zwergmispeln, Schleifenblumen, Ringelblumen, Stiefmütterchen. Und immer wenn ich morgens in der Früh zum Chor der Vögel erwachte und meinen Garten plante, kam es mir so vor, als ob etwas Vernunft und Farbe und Ordnung in die Welt zurückgekehrt wären.
     
    Ende April war ich mit einem Fernglas wieder einmal auf dem Aussichtsturm und bemerkte, wie sich weit im Osten etwas auf dem Highway bewegte: erst Staub, dann eine Kolonne von Leuten, die langsam auf die Stadt zukam. Diese unheimliche Stille, wenn man so etwas von weit weg durch ein Fernglas beobachtet. Man weiß, dass es dort Geräusche gibt – Pferde, die unter ihrer Last ächzen, Peitschen und Stöcke, rasselnde Ketten, Männer, die auf die Nachzügler schimpfen – , aber man kann sie nicht hören. Und im Fernglas ist alles so flach wie die Bilder in einem Kinderbuch.
    Der Anblick rief mir diese große Farbtafel in meiner Kinderbibel in Erinnerung, auf der Moses das Rote Meer teilt. Man sah die Wasserwände zu beiden
Seiten, glatt wie Glas, und die Fische, die auf dem trockenen Meeresgrund um sich schlugen und unter den Füßen der flüchtenden Israeliten starben. Im Hintergrund bereitete sich die Armee des Pharaos gerade darauf vor, zwischen die hohen blauen Wände zu treten. Der Streitwagen des Pharaos wurde von einem Paar großer, schnaubender Rappen gezogen, und ich hatte Alpträume, in denen ich hörte, wie ihre Hufe immer weiter zu mir aufholten und ich zwischen den erstickenden Fischen auf die Knie fiel und dachte: Lass es schnell geschehen, lass es schnell geschehen, ehe ich zum Geräusch von Charlos Atem erwachte, der mit offenem Mund schlief, und dieses wässrige frühe Morgenlicht erfüllte wie immer das Zimmer.
    Normalerweise wäre ich Ärger ja aus dem Weg gegangen, aber seit Ping und ihrem Baby war ich weniger vorsichtig mit meinem eigenen Leben. Immerhin war ich der einzige Vertreter des Gesetzes in der Gegend hier, und es schien mir nicht richtig, wie ein Dieb auf einer Hochzeit herumzuschleichen, während diese riesige Karawane direkt auf meine Stadt zukam.
    Der Highway verlief am Nordrand der Stadt. Eine Schotterstraße führte dorthin, aber zehn Jahre ständiger Wechsel von Frost und Tauwetter hatten sie praktisch unpassierbar gemacht. Ich wollte nicht die Gesundheit der Stute riskieren, also galoppierte ich über das freie Feld. Die Kolonne musste fast zweihundert
Seelen umfassen. Als man

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