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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Mal kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht die Letzte war. Das heißt, Ping und ich. Vor ein oder zwei Monaten noch hatte ich von mindestens drei Familien gehört, die sich in verschiedenen Vierteln der Stadt durchschlugen. Doch als ich da von dem alten Turm hinabblickte, konnte ich keine Spur von ihnen erkennen. Der Morgennebel hatte sich verzogen, und es war ein grauer, frostiger Tag mit etwa minus zwanzig Grad, aber man sah nicht ein Kringelchen Rauch von einem Herdfeuer aufsteigen.
    Seit ich denken kann, war diese Stadt mein Zuhause gewesen. Ich dachte an die Zeit vor meiner Geburt, als meine Eltern hierhergekommen waren, zusammen mit den anderen Pionierfamilien. Nur eine Generation später war dieser Ort bereits wieder verlassen.
    Von meiner Position aus konnte ich die Bäume sehen, die aus der Tribüne des Softballfelds wuchsen, das selbst nur ein Irrgarten aus wuchernden Büschen war. Die Plakatwände an der Hauptstraße waren von Wind und Wetter ganz eingeschrumpelt. Der Drugstore,
wo ich früher immer Malzmilch getrunken hatte, war ein dunkles Nest aus Glas und Holz. Der Bahnhof war nie an die Strecke angebunden worden und würde es nun auch nie werden. All diese Stunden und Tage menschlichen Kampfes, all die Tausende, die Millionen, die es gebraucht hatte, diesen Ort aufzubauen – nur damit er wieder niedergetrampelt wurde wie ein Ameisenhügel von einem verzogenen Kind.
    Diese Stadt war für die ersten Siedler das große Versprechen gewesen. Was war sie jetzt? Eine Geisterstadt, die zu Wildnis zerfiel.
     
    Keine Seele außer uns war hier geblieben – dessen wurde ich mir von Tag zu Tag sicherer. Man stelle sich das vor: eine Stadt von ehemals dreißigtausend Einwohnern, auf zwei Frauen und einen Bauch reduziert. Und das Komische daran war: Es gefiel mir. Ich begann, zu Fuß durch die Straßen zu laufen, etwas, was ich seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ich fühlte mich so diesem Ort verbundener – wenn ich unter meinen Füßen das Papier rascheln und das zerbrochene Glas knirschen hörte und all die weggeworfenen Sachen entdeckte, die die Geschichte meiner Stadt erzählten: eine schmutzige Puppe, ein paar Brillen, kaputte Schuhe.
    Und dann die Häuser, in denen die Challoners
und die Velazquezes gelebt hatten. Ich lehnte eine Leiter an die Außenwände und warf einen Blick hinein. Im Hof der Challoners war eine erbärmlich dürre Katze, aber keine Spur von Menschen. Die Velazquezes hatten ihr Haus ordentlich zurückgelassen, die Möbel waren intakt, der Garten sah aus, als habe man ihn umgegraben, doch es gab keinen Zweifel, dass auch sie weggegangen waren. Rudi, dieser Killer, und sein nicht weniger brutaler Sohn Emil.
    Jetzt, da die Menschen fort waren, schien es, als hätte die Natur beschlossen, das alles wieder für sich zu reklamieren. Auf der Considine Avenue stieß ich auf eine Rotte Wildschweine, mindestens zwölf davon, die die Abfallhaufen durchstöberten. Die erwachsenen Tiere waren schwarz und kantig, wie riesige Truhen. Ich schoss vom Pferd aus beide Pistolen leer, und traf zwei von ihnen, während der Rest quiekend davonlief. Ich zerlegte sie an Ort und Stelle. Die Lunge und die übrigen Innereien schleuderte ich in den Hof der Challoners, für die Katze.
    Zu Hause angekommen blickte ich auf die Blutspuren, die ich auf dem Eis der Straße hinterlassen hatte, und mich überkam ein eigenartiges Gefühl. Ich legte die leeren Pistolen auf den Küchentisch – und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal in fünfzehn Jahren ohne geladene Waffe in der Stadt unterwegs gewesen war.

    Wir schlugen uns tagelang die Bäuche voll, räucherten Speck für den Sommer und versuchten dabei, nicht zu sehr darüber nachzudenken, wie die Schweine an ihr Fett gekommen waren. Später bereute ich meine Großzügigkeit der Katze gegenüber, denn Ping kannte eine Methode, Innereien zu Wurst zu verarbeiten.
    Das andere, was mir auffiel, waren die Vögel. Im April machten sie morgens so einen Krach, dass ich noch im Dunkeln davon wach wurde. Und es waren so viele verschiedene geworden. Ich wusste ungefähr, welche davon essbar waren, aber die kleineren – nun, ich erkenne einen Spatz und ein Rotkehlchen, doch das hier, das war eine ganz neue Menagerie. Für die Vögel hatten sich die Dinge wirklich geändert. Sie hatten all das Fallobst und all die Beeren ganz für sich. Und so viele neue Plätze zum Nisten.
    Ping und ich begannen nach Wegen zu suchen, uns zu verständigen. Ich habe nie

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