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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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gewesen – als läge sie in einem tiefem Schlaf wie die Prinzessin im Märchen. Im Sommer aber konnte man sehen, dass sie nicht nur tot war – ihr Leichnam war fliegenübersät.
    Ich brauchte bis zum frühen Nachmittag, um den Ort zu finden, von dem Shamsudin erzählt hatte, und ich verbrachte eine weitere Stunde damit, mit meinem Werkzeug Halterungen an der Wand anzubringen und ein Seil festzumachen. Dann quetschte ich mich durch das zerbrochene Fenster und ließ mich hinunter.
    Es war nicht ganz so, wie Shamsudin es beschrieben hatte. So wie er es erzählt hatte, hätte der Lagerraum nahe der Einstiegsstelle sein müssen, aber da war nichts dergleichen. Die Anlage war viel größer, als ich erwartet hatte. Da war ein Gang fast von der
Größe einer Straße, der von versteckten Dachfenstern erhellt wurde, und Abzweigungen etwa alle zehn Meter. Es war ein richtiges Labyrinth, doch auf den weißen Fliesen auf dem Boden entdeckte ich Spuren von Schmutz und getrocknetem Blut, das nur von Shamsudin stammen konnte.
    Seinen Spuren zu folgen, war, wie ein verwundetes Tier zu jagen – die Art und Weise, wie sie kehrtmachten, keine bestimmte Richtung kannten, erschöpft an einer Stelle zu ruhen schienen, ehe sie weiterführten. Der Mann, der diese Spuren hinterlassen hatte, hatte nur noch wenige Tage zu leben gehabt. Und während ich ihm tiefer in das Labyrinth folgte, fragte ich mich, wie viel Zeit mir noch blieb, und dachte wieder an das doppelte Spiel. Ich schätzte, es stand fünfzig-fünfzig, dass sie mich auf der Brücke erschießen würden.
    Auch der Lagerraum lag viel tiefer, als Shamsudin es beschrieben hatte – mehrere Rampen und Treppen nach unten. Ich bezweifelte, dass irgendwer außer ihm diesen Raum hätte finden können. Nur jemand, der jede Hoffnung darauf verloren hatte, einen anderen Ausweg zu finden, wäre so tief in die Anlage gestolpert. Von allen Kombinationen an Abzweigungen und Gängen war er auf diese eine gestoßen. Das hatte beinahe etwas Göttliches – wenn man außer Acht ließ, was aus ihm geworden war.

    Tief in den Eingeweiden des Betonmonsters entdeckte ich schließlich einen blutigen Handabdruck an einer Doppeltür – und dahinter den Lagerraum.
    Er war vollgestellt mit Regalen, und in den Regalen die Gläser, gefüllt mit ihrer züngelnden blauen Essenz. Erst sahen sie alle identisch aus, aber als ich sie mir genauer betrachtete, entdeckte ich winzige Variationen in Form und Ausgestaltung, bis ich nicht mehr sicher war, ob auch nur zwei davon gleich waren.
    Ich bin in meinem Leben an einigen seltsamen Orten gewesen, aber irgendetwas an diesem Raum war völlig anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. Es fühlte sich an wie ein Grab, wie etwas Gottgeweihtes, nur in einer mir unbekannten Religion. Ich musste an den Schamanen denken, der die Knochen seiner Vorfahren besuchte. Hätte man mir in diesem Moment erzählt, dass jedes dieser Gläser die Seele eines Menschen enthielt, hätte ich es womöglich geglaubt.
    Ich hatte nicht vor, hier länger zu bleiben. Ich packte vier der Gläser in meine Tasche und machte mich aus dem Staub.
     
    Die Gefangenen im Lager rissen immer gern Witze darüber, einen Plan »überzuerfüllen« – das sagten sie, wenn ein Neuling in ihrer Gruppe zu hart arbeitete
und allgemein den Eindruck machte, als könnte er sie schlecht aussehen lassen. Die ersten paar Mal sagten sie es für gewöhnlich im Spaß, aber wenn derjenige weiterhin grub oder drosch, als hinge sein Leben davon ab – meist in der Hoffnung, die Wachen zu beeindrucken –, dann konnte es Prügel oder Schlimmeres geben. Einmal sah ich, wie sie einem mit einer Schaufel die Zehen abtrennten. Die langjährigen Insassen wussten, dass man sich keinen Gefallen damit tat, die Erwartungen zu übertreffen.
    Und so gab ich mir große Mühe, den Plan nicht überzuerfüllen. Da unten waren gut und gerne ein Dutzend Flugzeugladungen an wundersamen Dingen, aber ich hatte den Verdacht, dass es einen Punkt gab, an dem ich zu viel herausgebracht haben würde. Und dann würden sie mein Ticket nach Barrow vermutlich stornieren.
     
    Das Abendlicht zerschmolz zu Karamell, als ich die Allee mit den Kastanien erreichte und nach links auf die Brücke bog. Der Klang von Hufen und Gelächter hallte die Betonwand des Flusses hinab – so wie letztes Mal die Gewehrschüsse.
    Kurz vor der Brücke stieg ich ab und ging das letzte Stück zu Fuß. Zwei Wachen erwarteten mich. Ich warf die Tasche über die Straßensperre,

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