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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Boden.
    Beim Knall des Gewehrs bäumte sich Callards Pferd auf und rutschte aus. Einen Moment lang kämpfte er darum, sich im Sattel zu halten, doch dann fiel er ab. Stürzte in den Staub Polyns. Ich dachte zuerst, er hätte sich das Bein gebrochen, aber er war in Windeseile wieder auf den Füßen.
    Apofagato nahm die Zügel des Pferdes und versuchte es zu beruhigen, doch Callard riss sie ihm weg, schnappte sich seine Peitsche vom Sattel und schlug auf das Tier ein. »Du verdammtes Miststück«, schrie er und peitschte es, bis es mit den Augen rollte. Man
hätte meinen sollen, ein paar Schläge hätten gereicht, seinen Zorn zu besänftigen, aber dieser Zorn hatte seine Wurzeln anderswo. Dieser Zorn war etwas Uraltes. Callard schlug blindwütig auf das Tier ein, mit einer Bewegung, die mit einem Mal so vertraut schien, dass ich beinahe das Scheppern des Bettgestells hören konnte. Speichel stand auf seinen Lippen, als sie sich zu einem weiteren Fluch verzerrten: »Du Isebel!« Dann wandte er sich in die Richtung, in der, wie er wusste, ich stand. »Gib mir das Gewehr, Makepeace«, keuchte er. »Gib es mir!«
    Isebel … Das Wort brannte sich durch meine Erinnerung wie ein Säureschwall. Da war ein Vogelruf in der Stadt, die ich gerade verlassen hatte, und das wirbelnde Wasser unter uns schien eine Sekunde lang zu gefrieren. Meine Füße in den übergroßen Stiefeln bewegten sich furchtbar langsam, als ich nach rechts trat, um freie Sicht zu haben. Ich hörte Bill Evans’ Stimme in meinem Kopf, wie er mir beibrachte, die richtige Position einzunehmen: Beweg dich nach rechts, Gewicht auf das rechte Bein, nie über Kreuz.
    Eine der Wachen grinste vor sich hin, die andere hatte sich abgewandt, um sich eine Zigarette anzustecken. Callard sah mich mit seinen leeren Augen an und wartete auf das Gewehr.
    Ich jagte zwei Kugeln in seinen Körper, ehe er noch die Augenbrauen heben konnte.

    Die zweite Kugel warf ihn über den Rand der Brücke, er landete mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und Sekunden später hatte ihn die Strömung schon davongetragen. Ich tötete noch eine der Wachen, als sie nach ihrer Waffe griff. Der anderen klappte lediglich ungläubig die Kinnlade herunter, und Apofagato überließ mir sein Pferd ohne Widerrede.

8
    ICH HOFFTE, so wie letztes Mal durchzureiten, aber in den folgenden Tagen ging es mir so schlecht wie nie zuvor und ich musste mich ständig übergeben. Zuerst dachte ich, es sei die Krankheit, vor der wir alle Angst hatten, aber es war nichts, was ich in der Zone aufgeschnappt hatte – es war etwas, das ich mir von Shamsudin eingefangen hatte, die älteste Krankheit von allen.
    Eigentlich unmöglich, dass eine so flüchtige Vereinigung zu irgendetwas führen sollte. Ein Monat war vergangen, und ich hatte mir nichts dabei gedacht – ich wurde älter und hatte ohnehin nie einen regelmäßigen Zyklus gehabt, und bei dem Essen und den Strapazen, denen wir im Lager ausgesetzt waren, hatte ich jeden Monat ohnehin erwartet, dass mein Körper den Laden endlich dichtmachte. Doch er war hartnäckig – wie ein verrückter Wirt, der jeden Abend die Betten frisch überzieht, für Gäste, die nie kommen.
    Ich reiste durch das Land, während der Sommer
kam und ging. Als ich für das letzte Stück nach Norden abbog, gab es Frost in der Nacht und die erste grüne Ahnung der Himmelslichter.
    Wind und Wetter hatten den Highway aufgebrochen, an manchen Stellen musste ich mir ganz vorsichtig den Weg bahnen oder gar absteigen. Aber es machte mir nichts aus. Ich hatte es nicht eilig. Es gab genug, worüber ich nachdenken konnte.
    Ich habe den Norden nie so schön erlebt wie damals. Die kleinsten Dinge konnten mich begeistern: ein Streifen auf einem Stein, die blaue Krone auf einer Heckenkirsche, die die russischen Gefangenen zhimelost genannt hatten. Ich sah eine getigerte Katze durch das hohe Gras pirschen, der wilde Nachwuchs eines längst toten Haustiers. Sie floh, als sie mich sah – sie hatte keine Erinnerung an ein menschliches Gesicht. In der Nähe stand ein baufälliges Haus. Ich kauerte mich in seinen Grundmauern zum Pinkeln hin und fand ein vierblättriges Kleeblatt.
    Ich hatte schon zu anderen Zeiten Tiere oder Pflanzen gesehen, die hier nichts zu suchen hatten, doch jetzt schien ich alle paar Tage auf welche zu stoßen. Auf einen Papagei etwa – ein hellgrüner Blitz, der Schnabel unverkennbar. Ein anderes Mal war es ein Pflaumenbaum. Und einmal – ich schwöre es – ein Affe, das rosa

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