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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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etwas
anderes als Hochachtung für dich empfunden. Und es tat ihm so leid, wie es dich verändert hatte. Du warst immer so offen zu Menschen, konntest nicht stillhalten, warst immer in Bewegung wie eine Biene im Sommer. Ich weiß noch, du hattest große Träume. Nach Osten zu ziehen. In die Staaten. Du hattest nie die Mentalität eines Kleinstadtmädchens. Rudi sagte, es gab eine Zeit, als nur noch eine Handvoll von euch wie Flüchtlinge in den Trümmern Evangelines lebte. Er sagte, er habe dich jeden Tag gesehen, wie du mit dem Pferd deine Kreise gezogen hast wie ein – wie hat er es ausgedrückt? – ein rastloser Geist. Sagte, es habe ihn schockiert, zu sehen, was aus dir geworden war. Ich erinnere mich auch an dich, Makepeace. Wie aufgeweckt du warst. Und wie hübsch. Viele von uns hatten eine Schwäche für Makepeace Hatfield. Ich kann verstehen, weshalb du mich über die Zone belogen hast, aber wir sind keine Feinde. Schau mich an. Die Zeit hat es nicht gut mit mir gemeint. Aber bloß ein Katzensprung – und du kannst hier rauskommen. Bring uns an den Ort, wo diese Gläser sind, und wir können mit dem Flugzeug da draußen nach Barrow fliegen. Es würde dir dort gefallen. Den Leuten geht es sehr gut, es ist so, wie es hier früher mal war. Sehr nachbarschaftlich. Sehr respektvoll. Und Stück für Stück errichten wir etwas, das wir unseren Kindern hinterlassen können. Nicht
alle Väter sind wie deiner, Makepeace.« Callard stand auf, holte etwas aus seiner Tasche und legte es vor mir auf den Tisch. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Es tut mir leid, wenn dir das, was ich dir erzählt habe, wehtut, aber ich dachte, es wäre besser, wenn du Bescheid weißt.«
    Er rief die Wachen, damit sie ihn aus dem Zimmer brachten. Auf dem Weg nach draußen musste er eine Stufe nehmen, und er stolperte etwas, doch davon abgesehen wäre man nie darauf gekommen, dass er sein Augenlicht verloren hatte.
     
    Kurz darauf löste die Wache meine Hände. Ich ging zum Tisch. Zuerst hatte ich gedacht, Callard hätte mir einen Apfel dagelassen, aber jetzt sah ich, was es wirklich war. Eine Orange. Die allererste, die ich jemals in Händen hielt. Ich schnitt mit dem Fingernagel in die Haut, und sie verströmte einen Geruch, der Blumen und Minze und gebrannten Zucker zu enthalten schien. Und dann meinte ich, das Meer zu riechen. Aber ich brachte es nicht über mich, sie zu essen.
     
    In dieser Nacht gab es ein Gewitter – so schlimm, wie ich noch keines erlebt hatte. Es legte mit einem donnernden Paukenschlag im Osten los, weit von uns entfernt Richtung Küste, Richtung Evangeline.
Dann zog sich der Himmel zu, und es blitzte und regnete Eisbrocken, so groß, dass ich dachte, wir lägen unter Beschuss. Es hämmerte auf den Innenhof, rauschte in den Bäumen und hieb auf die Wellblechdächer der Gefangenenbaracken ein.
     
    Ich habe mein ganzes Leben mit Menschen verbracht, deren Trachten auf Erden sich einzig darum drehte, das Richtige zu tun, und ich schätze, dass ich diese Angewohnheit übernommen habe.
    Nun aber fand ich mich in einer Welt wieder, aus der das Richtige verschwunden war. Ich hatte immer geglaubt, dass das Richtige für meinen Vater wie der Norden war: eine Sache so real wie Sonnenschein, ein Ort auf der Karte, der Pfeil auf einem Kompass. Es war die unabänderliche Wahrheit von Pflicht und Liebe und Gewissen. Doch unsere Welt war so weit nach Norden gewandert, dass der Kompass nicht mehr schlau daraus wurde und sich nur noch hoffnungslos in seinem Häuschen drehen konnte. Norden lag nun in allen Richtungen. Norden war nirgendwo. So lange Zeit war das Flugzeug mein Norden gewesen. Und auf seltsame Weise auch Eben Callard. Was mir Schlimmes passiert war, war ebenso ein Anker für mich gewesen wie die Hoffnung, dass irgendwo in einer fernen Stadt ein Anschein von Ordnung und Gerechtigkeit herrschte. Aber wir waren lange
darüber hinaus. Ich stand im Dunkeln und versuchte, aus einem Raum schlau zu werden, der durch ein Schlüsselloch von Blitzen erhellt wurde.
    Nach Mitternacht ließ der Hagelschauer nach, und die Luft wurde still und frisch. Ich klapperte mit dem Blechbecher an der Tür, um die Wache zu rufen, und als der Mann kam, sagte ich ihm, ich hätte eine Botschaft für Eben Callard.

7
    SIE BRAUCHTEN NOCH anderthalb Tage, um das Ethanol für den Reservetank des Flugzeugs herzustellen. Der Plan war, so viel Treibstoff wie möglich mitzunehmen, um auf dem Rückweg keinen Zwischenstopp beim Lager einlegen zu

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