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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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dieses seltsame, kalte, leere, blutbefleckte Land nicht mehr als eine Erinnerung.
    Wir aber siedelten hier aus Überzeugung – wie es eine Handvoll Leute früher schon getan hatte –, gerade weil das Land leer war und unsere Eltern die Freiheit wollten, ihre Welt neu zu erschaffen. Es ist doch immer dieselbe Geschichte. Warum glauben die Menschen immer, sie könnten ganz von vorne anfangen, ihrer eigenen Natur entkommen? War nicht der Gegenbeweis überall um uns herum in Buktygachak? Die Sklavenheere, die eine neue Morgendämmerung errichten sollten, die düsteren Schornsteine der Fabrik? Aber nein, die gottlosen Kommissare hatten lediglich die falsche Vision gehabt – wir hatten die richtige. Diesmal lag die strahlende Zukunft tatsächlich um die nächste Ecke, und mit Gott auf unserer Seite und einer kollektiven Entschlossenheit, nur Gutes zu tun, würden wir einen Haufen Neuer Jerusalems mitten in diese gefrorene Wüste stellen.
    Was für ein Mist!

    Diese Welt ist eine schuppige alte Schlange. Sie ist eine listige alte Frau, und später einmal werde ich eine listige alte Frau sein, und das letzte menschliche Wesen, das auf dieser Welt Atem schöpft, wird eine listige alte Frau sein, die Hühner züchtet und Kohl anbaut und sich keine Illusionen macht und ihre Kinder überlebt hat. Diese Welt ist nicht rührselig, sondern mitleidlos. Ich weiß Bescheid über sie. Ja, vielleicht habe ich angefangen, ihr zu ähneln. Nur dass es ewig so weitergehen wird mit ihr – und mit mir nicht.
     
    So wurde es Oktober, und ich war wieder unterwegs. Es ist immer ein gutes Gefühl, in Bewegung zu sein, und diesmal hatte ich sogar einen Funken Hoffnung in mir.
    Hin und wieder kam ich an einem Baum vorbei, der am Rand des Highways stand und um dessen Stamm Stoffbänder, Glasperlen und alte Münzen gebunden waren. Das war ein alter Brauch der Tungusen – manche Bäume und Orte sind ihnen heilig.
    Früher, in der alten Zeit, als es auf dieser Straße richtig Verkehr gegeben hatte, banden die Menschen irgendwo Stoffstücke fest oder ließen ein paar Münzen da, bevor sie sich in die quietschenden Busse quetschten und auf die scheppernde Reise begaben, und baten so um eine sichere Rückkehr. Seltsam, was
von uns bleibt. Ein Rosenkranz, ein Fußabdruck, beschriebenes Papier. Wie soll irgendwer daraus schlau werden?
    In Buktygachak war an einigen Stellen etwas in die Zellenwände geritzt gewesen: ein Datum oder ein Name oder ein Fluch. Als ob die Menschen einen Beweis dafür liefern mussten, wirklich gelebt zu haben.
    Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in einem Bus gereist zu sein. Vielleicht war es ja wirklich furchteinflößend. Sich so auszuliefern. Sich der Bewegung von etwas anderem auszuliefern. So wie in diesem See. Was hätte man wohl von mir gefunden?
    Die Straße war wirklich in gutem Zustand. Ich rechnete mit zehn oder zwölf Tagen für die Reise. Ich konnte es auch in der halben Zeit schaffen, wenn ich es darauf anlegte, aber die Pferde trabten zufrieden vor sich hin, und wir schafften fünfzehn, zwanzig Meilen am Tag. Manchmal döste ich unterwegs ein, im Sattel zusammengesunken, die Augen halb geschlossen. Und träumte von meiner Kindheit. Wenn einem eine bestimmte Zeit gut in Erinnerung ist, denkt man automatisch, dass es dem Rest der Welt genauso ging. Doch in jenen Jahren, die für mich entweder sonnenbeschienen oder im Winter vom gemütlichen Knacken platzender Holzscheite erfüllt waren, zogen bereits Schatten auf.

    Als ich sieben Jahre alt war, trank ich einmal mit meinem Vater eine Limonade in Walter Perrymans Lebensmittelladen. Walter stammte aus einer alten Quäkerfamilie. Ich habe die Zeit als gut in Erinnerung, weil ich mich nicht entsinnen kann, dass es mir an irgendetwas gefehlt hätte. Wir waren alle zufrieden und hatten genug zu essen, und es wurden noch Häuser gebaut, und die Dinge hatten im Allgemeinen ihre Ordnung.
    Es war ein heißer Sommertag voller Fliegen. Walter wischte die Theke ab und plauderte mit meinem Vater. Dann hörten sie plötzlich auf zu reden und gingen raus auf die Veranda. Ich folgte ihnen, die Limonade in der Hand. Es war eine dieser Flaschen, die man mit einem Glasball verschloss. Walter machte verschiedene Sorten, aber am besten war die mit Birkensaft.
    Draußen starrten Walter und mein Vater ein Gespenst an, eine spindeldürre Frau, deren nackte Füße weich und gespreizt wie Karibu-Hufe waren.
    Sie sprachen sie an, aber die Frau bewegte sich wie in Trance. Ihre

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