Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
sie hier, weit im Norden, wieder die stille Musik des Lebens finden würden, so wie es sein sollte, unverfälscht und rau, von den Jahreszeiten geformt, von Mühsal und wahrer Freundschaft bestimmt.
Die Siedler arbeiteten hart, und so erblühten die Städte, während die Winter milder wurden. Nördlich unserer Stadt gab es einige heiße Quellen, zu denen wir Leitungen verlegten, um die Gewächshäuser zu beheizen. Wir zogen Tomaten und redeten sogar davon, Orangen anzubauen.
Mit der Zeit allerdings wurde deutlich, dass die Siedler weniger miteinander gemeinsam hatten, als sie glaubten. Fern der Welt zu sein machte die Unterschiede größer. Und so sehr sie sich auch bemühen, von vorne anzufangen, fallen Menschen oft sehr bald in ihre alten Gewohnheiten zurück. Gewohnheiten machen einen Großteil des Lebens aus. Schick jeden mit den gleichen Chancen los – am Ende stehen trotzdem einige mit mehr da und wollen es beschützen, und einige stehen mit weniger da und fordern Gerechtigkeit. Dennoch glaube ich, dass in diesen
frühen Jahren ein Gefühl der Verheißung über dem Land lag und unseren Taten ein höherer Sinn und Hoffnung innewohnte.
Als der Krieg ausbrach, verlangte die Regierung den Treueschwur von uns. Die vielen Quäker aber weigerten sich, irgendwelche Eide zu schwören, ihr Glaube verpflichtete sie, immer die Wahrheit zu sagen und nur der Heiligen Schrift gegenüber treu zu sein – eine komische Vorstellung, wenn man daran denkt, was für Lügner und Diebe sie später wurden. Die Regierung jedenfalls nahm das nicht gut auf, und als wir ihnen dann noch mitteilten, dass unsere jungen Männer auch nicht in der Armee dienen würden, entzogen sie uns jegliche Unterstützung: kein billiges Benzin mehr, keine Medikamente mehr, keine Lehrer mehr, die uns in unserer neuen Muttersprache unterrichtet hatten … Aber wir waren ja hierhergekommen, um in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatten nichts, was wir wollten. Und wenn, ließ uns der Mangel nur noch mehr zusammenrücken.
Ich nahm ein kleines Stück des rußgeschwärzten Flugzeugflügels als Andenken mit. Ich machte ein kleines Kreuz daraus und hängte es mir an einer Schnur um den Hals.
Aus der Tiefe meiner Trauer über Ping wuchs eine neue Hoffnung, und je mehr ich darüber nachdachte,
desto klarer schien es mir: Bestimmt war das Flugzeug von einer der Schwesterstädte oder einem Behelfslandeplatz an der Beringsee losgeflogen. Und wenn es nicht zurückkam, würde es einige gebrochene Herzen geben. Ich wusste, wie sich das anfühlte – das tagelange Warten auf das Drehen des Schlüssels an der Eingangstür oder auf den Klang einer vertrauten Stimme im Innenhof. Diese Leute aber würden nicht wiederkommen. Und was dann? Würden sie ein weiteres Flugzeug schicken? Hatten sie denn noch eines?
Wie schwer ihr Verlust auch wiegen mochte, ich war der festen Überzeugung, dass jeder Ort mit dem Wissen, ein Flugzeug zusammenzubauen und damit zu fliegen, in einer weit besseren Verfassung war als ich. Ja, ich stellte mir vor, dass selbst ihre Trauer eine feste innere Ordnung hatte.
Genau hier, vor meiner Nase, ist die wirkliche Welt. Der Bleistift in meiner Hand. Die alten Schulhefte, die ich vollschreibe. Der pflaumenschwarze Bluterguss auf meinem Daumen, den ich mir zugezogen habe, als ich eine Futterröhre für die Vögel aufhängte. Meine Handrücken, die faltiger aussehen als das letzte Mal, als ich sie betrachtet habe. Ich sehe das alles ganz deutlich. Ich brauche die Dinge nicht anders, als sie sind. Wenn ich auf die Jagd gehe, dann
jage ich auch nicht das, was ich zu finden hoffe, sondern das, was auch wirklich da ist.
Aber wenn es um dieses Flugzeug ging – und die Leben, die ich mir dahinter vorstellte –, war mir eine klare Sicht auf die wirkliche Welt verstellt. Ich musste glauben. Ich klammerte mich an jene Fakten, die zu meiner Sicht der Dinge passten, und kehrte den Rest unter den Teppich.
Ich schob es darauf, dass ich noch angeschlagen von meiner Trauer und nicht ganz bei Sinnen war. Eine Art Rausch befiel mich. Die Welt, die nach Pings Tod so trostlos gewirkt hatte, schien nun voller Möglichkeiten, so dass ich vor Hoffnung ganz nervös war und keinen Schlaf fand. Aber nach so vielen Jahren im Norden hätte ich die Zeichen erkennen müssen. Das arktische Jahr besteht aus neun Monaten Kälte und drei Monaten, in denen man lebt, was das Zeug hält. Trauer und die Umstellung nach den langen dunklen Wintermonaten konnten jeden Menschen
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