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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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überschnappen lassen.
     
    Ich ritt in die Stadt zurück und brauchte gut einen Monat, um zu Hause richtig klar Schiff zu machen.
    Ich schloss die Läden vor jedem Fenster und verbarrikadierte sie von innen mit Holzbalken. Ich sicherte die Tür mit drei verschiedenen Schlössern, gab die Schlüssel in einen gewachsten Beutel und vergrub
sie im Garten, am Fuß des Birnenbaums. Mein Vater hatte diesen Baum aus einem Ableger gezogen, den er aus Amerika mitgebracht hatte. Er wuchs klein und verkrüppelt wie die Weiden in der Tundra, aber er wuchs. Und gelegentlich trug er sogar Früchte – winzige, dickhäutige Birnen, so selten, dass sie mir mehr wie Glücksbringer als wie Nahrung erschienen. So sehr er sich auch bemühte, mein Vater schaffte es nie, diesem dürren Baum mehr als ein paar Früchte pro Jahr abzuringen. Er beschnitt ihn, düngte die Wurzeln mit Pottasche, tupfte den Pollen mit einem Pinsel von einer Blüte zur anderen … Aber er ließ sich die Enttäuschung nie anmerken.
    Als ich die Schlüssel vergrub, ging mir durch den Kopf, dass ich vielleicht nie wieder hierher zurückkommen würde, doch meine Reiselust und mein verzerrter Blick auf die Realität verwandelten den Abschied, der nüchtern und wohlüberlegt hätte sein können, in einen atemlosen Spurt zum Ausgang. Tatsächlich galoppierte ich geradezu hinaus, das zweite Pferd im Schlepptau. Wie wunderbar, nach all den Jahren der Vorsicht einfach auf den Highway hinauszupreschen!
    Das allerdings brachte mich wieder ein wenig zu Sinnen. Noch nie war ich alleine auf dieser langen, geraden Straße gereist. Ihr Zustand war erstaunlich gut, der Schotter ordentlich verlegt und immer noch
ziemlich eben. Aber als ich dann auf dieser merkwürdigen Linie stand, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte, sah es so aus, als würde die Straße über dem Erdboden schweben und ins Unendliche reichen.
    Keine Menschenseele war in dieser oder der anderen Richtung zu sehen. Und die nächste Siedlerstadt lag zweihundert Meilen im Osten.
     
    Diese Straßen im Norden waren nicht von Maschinen gebaut worden, sondern von Sklavenarbeitern, die die Kommissare geschickt hatten. Millionen von Menschen waren hier gestorben: verhungert, erfroren, in Minen zu Tode geschunden, von den Wachen erschossen, weil sie zu fliehen versuchten, von den Tungusen erschossen, wenn sie doch entkommen waren, ermordet und gegessen, wenn ihr Gefährte auf der Flucht nichts mehr zu essen hatte. So viele Tote. Schaut an einem Augustabend zum Himmel, wenn er voller Moskitos ist, und stellt euch jeden mit dem Kopf eines Menschen vor – und es sind immer noch zu wenig.
    Da fragt man sich, ob das Land einen solchen Fluch je vergisst.
    In Buktygachak steht eine alte Gefängnisfabrik, die ich als kleines Mädchen einmal besucht habe. Buktygachak: Schon der Name verheißt nichts Gutes.
Das Hauptgebäude der Fabrik stand noch, ebenso ein Zellenblock. Im Sommer wurde der Eindruck vom hohen Gras und der Wärme gemildert, doch der Tungusenführer, der uns dorthin brachte, schlug mir die Feldflasche aus der Hand, nachdem ich sie in einem Bach gefüllt hatte, und sagte, das Wasser würde mich krank machen.
    Er sagte, so viel Blut hätte das Land getränkt, dass das Wasser nicht mehr trinkbar sei. Ich verstand nicht, weshalb er mir Angst machen wollte. Die Tungusen waren wirklich sehr abergläubisch.
    Pa ließ sein Pferd das Wasser trinken, er selbst rührte es jedoch nicht an. Später sagte er, die Gefangenen hätten Uranerz für Kraftwerke und Bomben geschürft und die Strahlung sei zurück in den Boden gesickert. Ich stellte mir den Geschmack des Wassers vor – das pelzige Gefühl, das es auf der Zunge hinterließ, der Geruch nach Schwefel – und spürte, wie sich mir der Magen umdrehte.
    Die Wahrheit ist, dass sich außer uns nicht viele Leute je freiwillig hier niedergelassen haben. Die Tungusen waren vor Jahrhunderten aus der Mongolei gekommen, als es dort noch kälter war. Sie waren den Rentieren gefolgt. Und später kamen ein paar aus dem Westen, den Fellen nach. Aber die meisten anderen waren Gefangene oder Exilanten. Ja, man musste die Leute bestechen, dass sie nach Osten gingen,
musste sie mit hohen Löhnen in die Minen und Schächte locken. Und sobald sie ihren Vertrag erfüllt hatten, gingen sie in der Regel wieder nach Hause, wo immer das war. Ich sehe sie vor mir, wie sie wieder in ihren Wohnungen aufwachen, mit den Geräuschen einer alten Stadt um sich herum und ihrem Geld auf der Bank und

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