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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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großen, glasigen Augen blinzelten nicht einmal. Sie musste wochenlang gelaufen sein. Walter berührte sie an der Schulter – und sie brach keuchend zusammen. Sie trugen sie in den Laden und legten sie auf die Theke. Stützten ihren Kopf ab und versuchten sie dazu zu bringen, etwas zu essen. Doch
die Frau stieß sie mit bebenden Schultern von sich. Und dann schlossen sich ihre Augenlider mit einem Zittern, und sie starb dort direkt vor unseren Augen.
    Sie war die Erste. Am Stadtrand fand man ihr Baby. Wir begruben sie auf unserem Friedhof unter einem schlichten Holzkreuz mit der Inschrift: Mutter und Sohn. Gott hat sie gekannt. Aber die, die nach ihr kamen, waren einfach zu viele, um ihnen die gleiche Behandlung zukommen zu lassen. Es war kein Akt der Rücksichtslosigkeit – einige der Siedler, die sie begruben, fanden selbst kein Grab.
     
    Gegen Ende meines ersten Tages auf dem Highway begann Schnee zu fallen. Es hat mir nie etwas ausgemacht, bei schlechtem Wetter zu reisen, aber jetzt wurde meine Sicht auf höchstens zehn Meter nach vorne und hinten begrenzt, und ich sah gerne, was auf mich zukam. Also hielt ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf einer Lichtung neben der Straße an, die einigermaßen geschützt hinter einer Reihe von Bäumen lag. Der Schnee bedeckte meine Spuren, und ich entschied mich gegen ein Feuer, wegen des Rauchs. Als ich schließlich das Zelt aufgebaut hatte, war ich sogar zu müde, um noch etwas zu essen, was mir Proviant sparte. Aber mitten in der Nacht wachte ich hungrig wie ein Bär auf, noch immer vom Geruch gebratenen Specks träumend.

9
    UND DAS WAR ES DANN im Wesentlichen für die nächsten Wochen. Immer die Straße entlang, vom frühen Morgen bis zum Anbruch der Nacht, immer nach Nahrung und Wasser für die Pferde Ausschau haltend. Das Eis wurde von Tag zu Tag dicker, bis es nicht mehr reichte, der dünnen Schicht auf einem Bach einen guten Schlag mit einem Ast zu verpassen, und ich die Axt auspacken und mich durch die Kruste hacken musste.
    In den meisten Nächten riskierte ich ein Feuer. Ich hatte keine Menschenseele auf der Straße gesehen, und abgesehen davon behielt ich die geladenen Waffen immer in Reichweite.
    In der ersten klaren Frostnacht dann sah ich die Lichter, die sich am Himmel bauschten, als würde Gott die frische Bettwäsche ausschütteln – wenn der Allmächtige denn auf grüner Gaze schläft. Später im Jahr würden die Lichter mehr Farben haben, aber sie gefielen mir jetzt schon sehr. Bewegung hat etwas Beruhigendes, und das leichte, fließende Muster der
Lichter über mir fühlte sich an, als strich mir jemand durchs Haar.
    Nach etwa einer Woche schoss ich einen Elch und schlug mein Lager für zwei Nächte am selben Fleck auf, um ihn richtig zerlegen zu können. Das Fell musste ich zurücklassen und aus den Innereien machte ich mir nichts, aber so ziemlich alles andere räucherte ich oder ließ es gefrieren und nahm es mit.
    Während ich das Tier aufschnitt, hatte ich einen seltsamen Gedanken, der wie aus dem Nichts zu kommen schien. Einmal im Leben, sagte ich mir, wollte ich eine Orange kosten. Dieses Wort – Orange – erschien mir unglaublich schön. Ich stellte mir einen orangefarbenen Himmel vor und dann stellte ich mir seinen Geschmack vor: irgendetwas zwischen Karamell und Erdbeeren.
    Unter den Sternen, während sich der Planet sanft drehte, und mit einer guten Woche Essen über dem Rauch, hegte ich die Hoffnung, dass wer immer das Flugzeug geschickt hatte, mich am Ende meiner Reise erwarten würde. Manchmal schlief ich ein und träumte, irgendwo anzukommen und von einer Frau empfangen zu werden, die wie meine Mutter war. Sie freute sich zwar, mich zu sehen, rümpfte aber wegen meines schäbigen Aufzugs und meiner schlechten Ernährung die Nase. Sie bot mir einen Korb Orangen an, und mit zufriedenem Lächeln sagte sie: »Die
haben wir für dich aufgehoben.« Aber sooft ich das auch träumte, ich wachte immer in dem Moment auf, in dem ich eine davon in den Mund nahm.
     
    Nach zwei Wochen erreichte ich Esperanza. Von der Straße aus hatte ich den Eindruck, dass dies nicht der Ort war, nach dem ich suchte. Trotzdem ritt ich hinein, um ganz sicherzugehen.
    Es war eine Kopie der Stadt, die ich hinter mir gelassen hatte, ohne eine Menschenseele, geschweige denn jemanden, der ein Flugzeug fliegen konnte, und zum ersten Mal, seit ich mich aus dem Wasser gezogen hatte, begann ich an dem, was ich da tat, zu zweifeln. All die Tage auf der

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