Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
Stadt noch vier, fünf weitere. Ihre Bevölkerung bestand aus Menschen wie meinem Vater, Menschen, die nie einen Schuss im Zorn abgefeuert oder einen hungrigen Tag erlebt hatten. Sie empfanden die Kälte und Mühsal ihrer neuen Welt als erfrischend, wie ein Bad im Schnee nach der Sauna. Dieses Leben war eine ganz neue Erfahrung
für sie, etwas, das sie sich aus freien Stücken ausgesucht hatten.
»Bist du nicht froh«, sagten sie, »hier an diesem wunderbaren Ort zu leben und nicht meilenweit mit dem Bus fahren zu müssen, um Plastiknahrung in einer Schulmensa zu essen?« Ich sagte ja, aber nur, um ihnen einen Gefallen zu tun. Sie beschrieben uns die Welt, der sie den Rücken gekehrt hatten: entwurzelte, geldgierige Menschen, verweichlicht vom Überfluss, gefangen in gewalttätigen Städten voller Nacht und Regen.
Da ich diese Welt, aus der sie kamen, nie kennengelernt habe, kann ich nicht beurteilen, ob sie so war oder nicht. Aber ich teile nicht ihre Meinung über die Vorzüge des Mangels. Wir kommen aus dem Dunkel, so verletzlich und zart wie die pelzigen Knospen auf einem Geweih. Warum etwas ausschlagen, das einem das Leben erleichtert? Warum Städte und Maschinen, Diesel und Plastik und Medizin verschmähen?
Für sie war es eine Glaubensfrage. Vermutlich müssen alle Siedler zunächst einmal Eiferer sein. Was dachten wohl jene Kolonisten, die damals nach Roanoke oder Plymouth gingen, als die erste Nacht über ihrem fremden Ankerplatz hereinbrach? Hinter ihnen lagen Schauspielhäuser und Büchereien und steinerne Kirchen und die gepflegten Gräber ihrer Vorfahren. Vor ihnen die düsteren Wälder ihres seltsamen
Kanaan, unbekannte Vögel und Pflanzen und die Speere ihrer neuen Nachbarn. Woher wussten sie, dass das Land sie überhaupt ernähren konnte?
Wir mussten der alten Welt entsagen, um hier zu siedeln.
Damals war dieses Land fast so leer, wie es heute ist. Dennoch mussten die Siedler gleich doppelt dafür bezahlen – mit dem Geld, das ihnen ihren Anspruch sicherte, und indem sie alle Rechte aufgaben, die sie als Bürger anderer Nationen besaßen. Außerdem hatten sie kein Anrecht auf das, was unter der Erde lag: Öl, Diamanten oder Erdgas blieben weiter im Besitz der Regierung. Uns gehörte nichts außer der dünnen Schicht Mutterboden.
Mein Vater hob seinen alten marineblauen Pass zusammen mit seiner Geburts- und Heiratsurkunde in einer Blechdose auf dem Dachboden auf, aber es war ein wertloses Dokument, und alle, die wie ich hier geboren wurden, waren von Geburt an staatenlos.
Es war ein hoher Preis, und viele scheuten sich, ihn zu zahlen. Einige deuteten auf die weiten Länder Kanadas und sagten, wir sollten uns lieber dort niederlassen. Aber das Land, das sie da im Sinn hatten, gehörte den kanadischen Ureinwohnern, während auf der anderen Seite der Meerenge die Tungusen keinen vergleichbaren Besitzanspruch hatten.
Zunächst schien es allerdings keinen allzu großen Unterschied zu machen – die Religiösesten unter uns hielten nationale Identität ohnehin für eine Fiktion. Aber indem wir hierherkamen, machten wir uns zu Waisen.
Die russische Regierung betrachtete uns nie als vollwertige Bürger. Später begann sie, uns zu hassen, zunächst aber vergingen viele Jahre behördlichen Desinteresses. Einige Male sandten sie ein paar hohe Tiere, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung war, doch diese Besuche hörten bald auf. Niemand schenkte uns mehr viel Aufmerksamkeit, wir waren uns selbst überlassen.
Siebzigtausend Menschen waren insgesamt gekommen, in drei Siedlungswellen über zehn Jahre hinweg. Die meisten waren Quäker wie mein Vater und meine Mutter, die erst spät zu ihrem Glauben gefunden hatten. Einige gehörten auch einer anderen religiösen Strömung an und glaubten, dass die »Letzten Tage« angebrochen wären und die »Auserwählten« schon bald ins Himmelreich entrückt werden würden. Manche hatten gar keinen festen Glauben, sondern verehrten die Natur oder die Vernunft oder waren einfach der Überzeugung, dass die alten, überfüllten Städte, in denen sie groß geworden waren, mit dem, was sie unter Leben verstanden, nicht mehr das Geringste zu tun hatten. Niemand lief vor
der Armut davon, ja wenn sie überhaupt vor etwas davonliefen, dann vor dem Gegenteil – vor Geld und Gier und Macht. Manche ließen ihr altes Leben frohen Mutes zurück, und manche mit großer Trauer, denn es kam ihnen wie eine Niederlage, wie eine Kapitulation vor. Aber alle von ihnen glaubten, dass
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