Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
gefährlichen Straße – nur um einen noch schlimmeren Ort zu finden als den, von dem ich komme? Was, wenn das alles ist, was zwischen hier und Alaska existiert?
Aber das Flugzeug, das ich gesehen hatte, war echt gewesen, daran gab es keinen Zweifel – ich hatte die Crew und die Passagiere mit meinen eigenen Händen bestattet. Und so versuchte ich, mich mit der Frage zu trösten, wie es mir denn ginge, wenn das Leben einfach normal weitergelaufen wäre. Wenn ich weiter wie eine Schabe im Keller gelebt hätte – und sie hier mit, ich weiß nicht was, Schulen und Beerdigungen und Weihnachten und Orangen.
Früher, das habe ich jedenfalls gehört, gab es Kriege,
in denen Soldaten im Wald verschwanden, nur um Jahrzehnte später wieder rauszukommen und festzustellen, dass die Kämpfe lange vorbei waren und ihre Familien in Frieden und Überfluss lebten, während sie Wasser aus Baumstümpfen getrunken und Egel gegessen hatten, um am Leben zu bleiben.
Der Gedanke schmerzte – die Vorstellung, dass ich von der richtigen Welt abgeschnitten worden war, und es war etwas Zeit vergangen, und in dieser anderen Welt lief alles weiter, und dann finde ich sie und stehe wie ein Wilder im Lendenschurz vor einer Stadt aus funkelndem Glas.
Aber ich glaube, mir wäre alles lieber gewesen als die ausgebrannten Häuser und der Dreck und der Verfall, der die Geschichte erzählte, in der ich schon so lange lebe. Als ich diese Nacht die Lichter sah, trugen sie kein Fünkchen Trost in sich. Sie wogten kalt über meinem Kopf, wie sie es noch in einer Million Jahren tun werden.
Die Enttäuschung nahm mir etwas an Schwung, aber trotzdem setzte ich meinen Weg fort. Die Tage wurden kürzer und kälter. Jenseits von Homerton, das wusste ich, endete der Highway, und es gab nur noch Winterstraßen bis zum Meer. Ich musste meine Jagdfelle anziehen, um warm zu bleiben, Tungusen-Kleider,
die ich jeden Sommer mit aller Macht vor den gierigen Motten verteidigte: Jacke und Hose aus Vielfraßpelz, Handschuhe aus Schneeschaf, weiche Stiefel aus Rentierhaut.
Die Nächte waren meistens klar, der Schnee reflektierte das Mondlicht, und so ritt ich weiter, immer dem Schimmer in der Dunkelheit nach. Ich bemühte mich, die Pferde nicht zu überfordern, aber es war nicht einfach, sie beide satt zu kriegen. Sie wurden merklich dünner, und insgeheim wusste ich, dass ich früher oder später langsamer machen oder mir neue Tiere besorgen musste. Es gab Jakuten-Ponys in der Tundra, doch sie zu finden und zu zähmen konnte bis zum Frühjahr dauern. Nicht, dass ich keine Zeit gehabt hätte, auch wenn ich mir das einredete – ich hatte Angst bei dem Gedanken, langsamer zu gehen. Vorwärts, vorwärts, sagten die Hufe im Schnee. Und nicht zurückblicken. Hinter mir – näher, als mir lieb war – lagen der dunkle Schatten des Sees und die Erinnerung an Ping und ihr Kind, und mir fehlte immer noch der Mut, mich dieser Erinnerung zu stellen.
Und dann, an einem Tag im Dezember, im Halbdunkel des Morgens, kam ich zu einem gefällten Baum am Straßenrand. Zuerst glaubte ich, er sei von alleine umgestürzt, doch als ich näher kam, waren
die frischen Axtspuren am Stamm nicht mehr zu übersehen. Der Baum war erst kürzlich gefällt worden. Und ein Stück weiter noch einer. Und noch einer.
Trotzdem: Nur weil jemand schlau genug war, Holz zu fällen, machte ihn das noch lange nicht zu einem Freund. Ich stieg also ab und führte die Tiere zu Fuß neben der Straße weiter, stolperte in den frischen Schneeverwehungen, schwitzte meine Felle nass. So ging es zwar langsamer, doch man lief weniger Gefahr, überrascht zu werden. Und nach und nach näherte ich mich einem unverkennbaren Klang: das Geräusch einer Holzsäge, die in einem Baumstamm vor- und zurückgezogen wird.
Ich band die Pferde an und ging alleine weiter, kroch auf dem Bauch unter den Ästen hindurch, bis ich die Füße der beiden Arbeiter ausmachen konnte. Sie trugen Filzstiefel, was bedeutete, dass sie keine Tungusen waren.
Und während ich da mit Schnee im Gesicht lag und auf ihre Füße starrte, dachte ich: So weit ist es also mit uns gekommen. Sich im Norden irgendjemandem zu nähern, ist eine gefährliche Sache. Und die ständige Furcht ist wie ein Nebel, der die Menschen größer erscheinen lässt, als sie wirklich sind, und alle ihre Bewegungen bedrohlich.
Eigentlich hatte ich beabsichtigt, aufzustehen, aus dem Wald zu treten und so langsam und freundlich wie möglich auf sie zuzugehen, mit
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