Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
ebenso gut wusste wie ich, und sein Blick sagte mir auch, dass ein Teil von ihm sich selbst dafür verachtete. Aber das war kein Trost für mich.
Etwas in ihm war dunkel wie die Nacht, und ich hatte es gesehen, und er würde mich dafür zerquetschen wollen.
An diesem Abend errichteten sie einen Galgen, und als die Sonne wieder am Horizont erschien, brachten sie uns raus. Wir waren zu viert. Keine Ahnung, wo sie die anderen drei eingesperrt hatten, jedenfalls waren sie in einem weitaus schlechteren Zustand als ich. Vetchs Hand und Ohr hatten sie zwar geflickt, sein Gesicht aber war grauer als gekochtes Rindfleisch.
Boathwaite sagte, als Rädelsführer eines verräterischen Komplotts gegen die Menschen von Horeb könne er kein Mitgefühl erwarten, es stünde ihm aber zu, einige letzte Worte zu sprechen.
Vetch murmelte ein Gebet, dann stießen sie ihn hinunter. Das Seil war zu kurz, um ihm das Genick zu brechen, und so strampelte er mit den Beinen, bis er erstickte.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als sie zu mir kamen. Ich muss mich an all das erinnern, dachte ich. Merkwürdige Gedanken nahmen in meinem Kopf Gestalt an: Wie seltsam, als Verräter gehängt zu werden … Wie seltsam, gehängt zu werden, jetzt, da mein gebrochener Arm gerade zu verheilen begann …
Boathwaite sagte, auch ich sei der Verschwörung für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden, und was hätte ich dazu zu sagen?
Ihre Augen ruhten auf mir, warteten darauf, dass ich sprechen würde, aber es kamen keine Worte. Ich betrachtete ihre schmuddeligen Kleider, deren Farbe wie die Farbe der Erde schien, die mich verschlingen würde.
Damals am See war es anders gewesen. Damals war mein Gehirn durcheinander, so als hätte ich einen Monat lang nicht geschlafen, und es schien weniger schmerzhaft, diese Welt zu verlassen. Jetzt aber fühlte ich nur Trauer. Selbst hier draußen in der Kälte – es war noch mindestens sechs Wochen bis zum Frühling – war der Himmel doch schön, und das Licht auf dem geschmolzenen Eis war feucht und klar wie das Auge eines Kindes.
Quietschend drehte sich Jacob Vetchs Körper an dem Seil neben mir.
Angesichts der Übung, die ich mit letzten Worten hatte, hätte man meinen können, ich wäre besser darin. Tatsächlich war es meine Absicht, ihnen mit Schweigen und Verachtung gegenüberzutreten, aber im letzten Moment platzte etwas aus meinem Mund, das heute, nach all den Jahren, die ich zum Nachdenken hatte, immer noch keinen Sinn ergibt.
»Was ihr mir nehmt, gehört nicht mir«, sagte ich,
und die Stille danach zog sich endlos hin, als warteten sie auf noch etwas, aber ich wusste beim besten Willen nicht, was ich dem noch hinzufügen hätte sollen.
»Die Todesstrafe wird von der Bibel gebilligt«, sagte Boathwaite. Seine Stimme war so heiser, dass sie wie eine Eissäge knirschte. »Unsere Väter haben lange Zeit dagegen gepredigt. Jesus aber kam, die Prophezeiungen seines Vaters im Alten Testament zu erfüllen. Jesus selbst ist Gott. Und Er kann sich selbst nicht widersprechen. Er hat die Feinde des Heiligen Geistes mit dem Tod bestraft.«
»Amen«, murmelte die Gemeinde.
Ich dachte: Gute Nacht, Makepeace. Und bereitete mich auf den Stoß vor, auf die Panik und die erstickende Hitze in meinem Hals. Lehn dich zurück und atme, sagte ich mir. Ich dachte, dass es die Schmerzen lindern würde, wenn ich mich in mein Schicksal ergebe, anstatt mich zu verkrampfen und wild um mich zu treten.
»Und doch«, sagte Boathwaite dann, »wurde Jesus’ eigenes Blut in Barmherzigkeit vergossen, und diese Barmherzigkeit kann in manchen Fällen die Strenge des Strafmaßes revidieren. Da die Verurteilte eine Frau ist, haben wir entschieden, das Urteil in Knechtschaft unbegrenzter Dauer umzuwandeln.«
Hatte ich recht gehört? Sie ließen mich davonkommen,
weil ich eine Frau war? Das wäre das erste Mal, dass mir das genützt hätte.
Die Luft vor meinen Augen begann zu schäumen und Blasen zu werfen, als sie mich losmachten. Ich war noch nie in meinem Leben ohnmächtig geworden und wollte verdammt sein, wenn es mir jetzt passierte, doch dann schleiften meine Beine auf dem Boden hinter mir her wie ein paar Würstchen, als sie mich zurück in die Kellerzelle trugen.
Sie ließen mich noch einige Tage im Dunkeln sitzen, weil ich sagte, mein Arm sei für schwere Arbeit noch nicht zu gebrauchen. Vielen von ihnen gefiel das nicht, sie sagten, mein Arm sehe gut genug aus, und wieso sollten sie Faulenzer und Verräter
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