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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Gemüsebeets setzte.
    Jetzt weiß ich es besser.
    Ich dachte einst, ich sei in eine junge Welt geboren worden, die vor meinen Augen älter wurde, aber als meine Familie hierherkam, war die Welt schon alt. Ja, ich wurde in die älteste aller Welten geboren. Eine Welt wie ein geschundenes Pferd, das vor lauter Verletzungen lahmt und sich anschickt, seinen Reiter abzuwerfen. Eine Welt jenseits meiner Eltern – aus
Erinnerungssteinen und Flugzeugen und gläsernen Städten, die sie aus ihrem Gedächtnis streichen wollten.
    Es gibt eine Menge Dinge, die auch ich gerne aus meiner Erinnerung streichen würde, aber man kann Unschuld nicht heucheln. Es ist eine Sache, etwas nicht zu kennen, aber so zu tun, als ob, ist Täuschung. Während Charlo und Anna und ich im Schmutz spielten wie Idioten, die glaubten, den Garten Eden gefunden zu haben, und die übrigen Siedler sich dazu gratulierten, sich auf dem angeschlagenen Planeten eine perfekte Ecke gesucht zu haben, fiel die Welt, die sie zurückgelassen hatten, auseinander. Welche Arroganz ließ uns glauben, dass wir weit genug weg waren, um in Sicherheit zu sein?
     
    Als die erste halbverhungerte Frau vor dem Lebensmittelladen zusammenbrach, wussten wir es noch nicht, aber offenbar war die halbe Welt auf Wanderschaft.
    Als ich vierzehn wurde, hatte sich die Bevölkerung in unserer Stadt fast verdoppelt und die Elendsviertel an ihrem Rand schienen täglich zu wachsen. Die Neuankömmlinge brachten Geschichten von Fluten, Seuchen und Krieg mit. Unsere Stadt schien der Knotenpunkt einer im Chaos versinkenden Welt zu sein, kein obskurer, unbedeutender Ort am fernen
Rand eines wirbelnden Unheils mehr, das sich unserer Kontrolle entzog.
    Nur die wirklich Verzweifelten reisten im Sommer. Das hieß nämlich, dass sie jede Hoffnung auf eine Ernte aufgegeben hatten und versuchten, unterwegs in Hitze und Staub etwas zu essen aufzulesen. Einige von ihnen waren Siedlerfamilien, die von ihren Höfen im Süden kamen, aber die meisten kamen von sehr viel weiter her: Russen, Uiguren, Chinesen, Usbeken, spindeldürr und ihre Gesichter verdorrt, sogar die Jungen. Manche waren so krank, dass jede Hilfe zu spät kam. Wovor diese Leute davonliefen, ließ die Welt, die meine Eltern verlassen hatten, wie ein Paradies erscheinen.
    In den frühen Tagen betrachtete mein Vater und der Großteil der übrigen Einheimischen die Ankunft dieser Leute als eine Art Prüfung, und sie hießen die Neuankömmlinge wie verlorene Verwandte willkommen. Ich erinnere mich an eine völlig erschöpfte Usbekenfamilie, die in unserem Haus einquartiert wurde, als ich neun oder zehn war. Die Eltern schalten die Kinder, weil sie nach dem Essen griffen, kaum dass es auf dem Tisch stand, und dann stocherte die Mutter in ihrem Teller herum, als wäre sie zu stolz, sich ihren Hunger einzugestehen. Sie sprach Englisch und übersetzte für die anderen, während meine Mutter über das Leben sprach, das sie zurückgelassen
hatte. All das hatte ich tausend Mal gehört und ihm nie große Aufmerksamkeit geschenkt – die Reichen, die sich hinter einer Mauer aus Geld überstrahlte, die Straßenbeleuchtung, die das Sternenlicht überstrahlte, die Erdbeeren im Februar, der Lärm und der Schmutz und die Unhöflichkeit –, aber ich kann den Gesichtsausdruck dieses Usbeken, des Vaters, nicht vergessen, wie er meiner Mutter zuhörte, vorwurfsvoll und ungläubig zugleich und mit einem Verlangen, das man bei einem streunenden Tier vermuten mochte, das in der Abenddämmerung den Geruch einer Grillparty wahrnimmt. Sie müssen geglaubt haben, wir seien verrückt.
     
    Die Leute, die zu Beginn kamen, waren keineswegs schlechte Menschen. Ihre leeren Mägen hatten sie gelassen gemacht, und sie waren begierig nach Arbeit. Aber es war seltsam, wie unsere Nächstenliebe ihren Zorn schürte. Ohne jeglichen Besitz hatten sie sich unserer Gnade ausgeliefert, und nachdem der erste Hunger gestillt war, sahen sie sich um und bemerkten die leerstehenden Zimmer und die Nahrung, die wir zum Handeln und Anpflanzen aufhoben, und das machte sie zornig.
    Die Gefährlicheren kamen erst später. Es waren weniger, und sie reisten im Winter. Was nur vernünftig war: Auf den Winterstraßen kam man besser
voran, und man konnte sich im Sommer und im Herbst Vorräte für die Reise anlegen. Sie kamen also in besserer Verfassung an. Einige wenige sogar mit Autos, die meisten mit Schusswaffen. Auch das war vernünftig, aber es machte sie nicht willkommener. Sie kampierten am

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