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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Boathwaite zu weit, und er wies den Mann an, sich zu setzen. »Was schwerer wiegt«, sagte er dann, »ist, dass wir unter deinen Besitztümern gewisse Notizbücher fanden, in Geheimschrift verfasst. Zeigen Sie ihr das Buch, Dr. Pritchard.«
    Dr. Pritchard war ein rotblonder Mann von etwa fünfzig Jahren. Bisher hatte er kein Wort gesagt, ich erkannte ihn aber als den Mann wieder, der das Wasser über mich geschüttet hatte. Nun hielt er mir ein altes zerfleddertes Buch von der Größe eines Gesangbuchs unter die Nase und schlug es auf. Die vergilbten Seiten waren mit irgendwelchen Buchstaben oder Zeichen bedeckt, offenbar mit Tinte geschrieben. Irgendjemand hatte sich damit große Mühe gegeben, aber nicht ich. Ich hatte das Buch noch nie im Leben gesehen, und das sagte ich ihnen auch.
    »Wie geriet es dann unter deine Besitztümer?«

    Ich sagte, das müssten sie besser wissen als ich, da sie es ja dorthin gelegt hatten.
    »Leugnest du, dass es dir gehört?«
    »Ja, das tue ich.«
    Sie schienen richtiggehend erfreut über meine Antwort, auch wenn sie eigentlich keine andere erwartet haben konnten. Jedenfalls sagte ich an diesem Abend kein weiteres Wort mehr, und so sperrten sie mich irgendwo am Rand der Siedlung in einen Keller.
     
    Dort hielten sie mich beinahe zwei Wochen gefangen, gaben mir Haferschleim zu essen und zerrten mich zu den unmöglichsten Zeiten – in der Nacht, am frühen Morgen – zum Verhör. Manchmal führte Dr. Pritchard den Vorsitz, manchmal Boathwaite.
    Abgesehen vom Schlafentzug und dem schlechten Essen gab es jedoch keine weiteren Foltermethoden. Bei jedem Verhör allerdings zauberten sie neue gefälschte Bücher hervor, die ich angeblich bei mir gehabt hatte, bis es mir schien, als hielten sie mich für eine wandernde Bibliothek. Und sie stellten mir alle möglichen Fragen – wo ich herkam, warum ich mich als Mann verkleidet hatte, warum mein Gesicht so entstellt war. Ich antwortete ihnen so ehrlich ich konnte.
    Der Groschen fiel, als sie begannen, von Komplizen
zu reden und Bewohner von Horeb namentlich zu nennen, von denen ich noch nie gehört hatte. Jacob Vetch etwa. Und als ich sagte, dass ich ihn nicht kenne, schnaubten sie nur verächtlich.
    Tatsächlich stellte sich heraus, dass ich hier der Lügner war. Am nächsten Tag zogen sie mir eine Kapuze über den Kopf, brachten mich in ein anderes Gebäude und erklärten, dass ich nun Jacob Vetch von Angesicht zu Angesicht begegnen würde. Sie zogen die Kapuze weg, und einen Moment stand ich nur da und blinzelte ins Licht. Ich war in der Kapelle, und diesmal waren mehr Leute dort als beim letzten Mal. Boathwaite hielt sich etwas abseits und machte sich Notizen.
    Jacob Vetch saß schlaff auf einem Schemel. Und ja, ich war ihm schon einmal begegnet: Es war der alte Mann mit dem Gewehr, der die Holzfäller bewacht hatte, an jenem Tag, an dem ich Horeb zum ersten Mal gesehen hatte.
    Sie hatten ihn sich gründlich vorgenommen. Eines seiner Ohren war zerrissen, und anstelle eines Daumens war da nur ein blutiger Stumpf.
    Offenbar war meine Ankunft ein Segen für Vetchs Feinde gewesen. Ich habe mich oft gefragt, was der arme Mann getan hatte, um eine solche Behandlung zu verdienen, aber ich hatte genug Grausamkeit gesehen, um zu wissen, dass es die Pechvögel weitaus
öfter trifft als die Schuldigen. Horeb war ein Ort, der der Dämmerung entgegensah, so wie einst meine Stadt, und jene letzten Tage waren auch für uns die schlimmsten gewesen.
    Boathwaite und ich tauschten einen Blick, und für einen Moment spürte ich ein gegenseitiges Verstehen. Bill Evans hatte das immer »lesen« genannt – dass die wirklich guten Ermittler in die Haut eines anderen schlüpfen können und wissen, was er weiß, fühlen, was er fühlt. Es fällt schwer, jemanden zu hassen, den man auf diese Weise »liest«. Man erkennt die Motive hinter seiner Tat. Man erkennt, dass selbst Leute mit einer so mühsam errichteten Fassade wie der Reverend innerlich zerrissen sind.
    In diesem Moment wurde mir klar, dass Boathwaite in Angst vor den Leuten lebte, die er führte. Liebe und Erbarmen waren eben keine Garantie für Gefolgschaft. Seine Gemeinde litt Hunger, und der Reverend musste die Methoden älterer Götter benutzen, um sie bei der Stange zu halten: Angst und Erbarmen – wie der doppelte Schatten eines alten Totems, das mit Blut genährt wird. Der arme alte Vetch musste sterben, um diesen halbverhungerten Leuten Angst einzujagen. Ich spürte, dass Boathwaite das

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