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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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durchfüttern, wenn so viele ehrliche Menschen Hunger litten? Ich rang mir innerlich ein Lächeln ab, denn all das erinnerte mich an die Diskussionen, die auch wir damals über Zuzügler geführt hatten.
    Sie sagten, sie würden meine Rationen kürzen, bis ich mich endlich nützlich mache. Am ersten Tag gaben sie mir schimmliges Sauerkraut und einen Kanten Brot. Das Brot war alt und schwer. Ich drehte es in meiner Hand. Ich hatte schon sehr lange keines mehr gesehen, und auf merkwürdige Weise, beinahe so wie das Flugzeug, ließ die saure, alte Kruste ein Gefühl der Hoffnung in mir aufkommen. Die Sommer
im Norden waren wärmer geworden, doch nach wie vor wurde hier kein Weizen angebaut. Woher kam das Mehl für dieses Brot?
    Als ich darüber nachzudenken begann, schien es mir immer mehr, dass die Bewohner von Horeb noch auf andere Weise mit einer größeren Welt verbunden waren. Woran hatte Boathwaite gearbeitet, als ich ihn in seinem Quartier besucht hatte? Ja, selbst seine Anschuldigungen, die angebliche Verschwörung – hieß das nicht, dass ich in seiner Vorstellung Teil von etwas war, das größer und dichter bevölkert war als Horeb und die Wildnis darum herum?
     
    Bis sie eines Tages in Walter Perrymans Lebensmittelladen getaumelt kam, hatte ich nie groß über die Welt außerhalb meiner Stadt nachgedacht. Charlo schon. Er ertrank geradezu in Landkarten und Atlanten, und er hatte das Talent und das Gedächtnis für Fremdsprachen.
    Ich war eine Rumtreiberin. Unruhig, impulsiv. Die Wälder vor der Stadt waren die Welt, unser Haus war »zu Hause«, und wohin der Highway eigentlich führte, war mir egal.
    Uns als in sich gekehrte Menschen zu bezeichnen, war, wie zu sagen, dass die Tungusen Rentiere ganz nützlich fanden oder dass der sibirische Winter frisch werden konnte. Meine Mutter war in einem Haus
aufgewachsen, das im Winter gewärmt und im Sommer gekühlt worden war, aber als sie meinem Vater folgte, um diese neue Welt zu besiedeln, ließ sie all das zurück. Und sie war nicht die Einzige. Viele Leute sahen eine Art Tugendhaftigkeit in allem, was einfach, handgemacht, geflickt war – ehe es dann ohnehin nichts anderes mehr gab.
    Meine Mutter verzweifelte manchmal daran, dass ich kein »mädchenhaftes« Mädchen war, nicht blond und kurvenreich wie sie, sondern groß und schlank, mit einer Brust so flach wie Charlos. Ich war wie mein Vater: jede Menge Kanten, harte, rote Ellbogen und dazu eine große Nase. Ma versuchte, mein Interesse an Hausarbeit zu wecken – Stricken und Flechtarbeit und Stuhlsitze bespannen –, aber der Erfolg hielt sich in Grenzen.
    Eines grauen Frühlingstages, als ich wegen einer Kehlkopfentzündung nicht zur Schule musste, ließ sie mich in ihrem Bett liegen, diesem riesigen schmiedeeisernen Ding mit den Messingkugeln an den Ecken, das sie aus Chicago mitgebracht hatten und das immer leicht schepperte, wenn man sich darauf bewegte.
    Ich war mürrisch und unruhig. Ich muss damals zehn gewesen sein. Jedenfalls brachte mir meine Mutter heißes Wasser mit Lavendel darin, um mir das Atmen zu erleichtern. Sie hatte eine Engelsgeduld mit meinem Gegreine.

    »Schau mal, M«, sagte sie (M war das Äußerste an Kosenamen, was sie für mich reserviert hatte). »Ich zeig dir etwas. Aber du musst schwören, dass du deinem Vater nichts sagst.«
    Das ließ mich meinen wunden Hals sofort vergessen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie sich am Schrank umdreht, ihr langes, blondes Haar fast bis zur Taille, und ihr der Schalk aus den Augen blitzt – was man, wenn man meine Mutter nur ein bisschen kannte, kaum glauben mochte.
    Schwören … Das Wort schien mir außergewöhnlich. Als Quäker wurden wir zu so hohen Maßstäben von Rechtschaffenheit angehalten, dass ein Schwur gegen unsere Religion verstieß. Wir sagten immer die Wahrheit, Hand auf der Bibel oder nicht, und etwas anderes anzudeuten, wurde als Angriff auf unsere Würde gewertet.
    »Das muss auf jeden Fall unter uns beiden bleiben, ja?«
    Ich nickte, und sie holte den holzgeschnitzten Kasten aus dem Schrank, in dem sie die kleine Phiole mit dem Lavendelöl aufbewahrte.
    Dann stellte sie den Kasten auf das Bett und ließ mich ihn ansehen. Er mutete chinesisch an, war an den Ecken gerundet und hatte einen großen Holzgriff, der stolz hervorstand. Der Griff war dunkelrot, der Deckel schwarz, und auf dem Deckel war in abgeblättertem
Gold ein Bild von einem Mann unter einer Weide zu erkennen. Der Deckel saß sehr fest, Ma musste mir helfen,

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