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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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damit ich ihn aufbekam.
    Wenn ich so darüber nachdenke, muss es wohl ein Nähkasten gewesen sein, der Form nach und wie das Innere aufgeteilt war. Ganz oben lagen Salben und Verbände und kleine Medizinfläschchen, aber mir war klar, dass meine Mutter mir den Kasten nicht deshalb zeigte. Ihre Augen lächelten vielsagend, und sie half mir, die Holzfächer anzuheben und so den unteren Teil des Kastens zu öffnen.
    Mein erstes Gefühl war Enttäuschung, denn was ich sah, wirkte wie das, was ich am Ende jedes Schuljahres aus meinem Pult räumte: Bleistiftstummel, zerknülltes Papier, Gummibänder.
    »Das sind einige Sachen aus der Zeit, bevor ich deinen Vater kennenlernte«, sagte meine Mutter, nahm einen der Papierknäuel und legte ihn neben mich. In dem Papier befand sich ein silberner Stein, etwa so groß wie ein Apfel, aber flacher und hart und kalt. Er lag da, tot und reglos.
    »Funktioniert nicht«, sagte meine Mutter nach einer Weile, trug den Stein aus dem Zimmer und legte ihn irgendwo ab. Dann kam sie wieder zurück, und wir sahen uns gemeinsam die anderen Sachen in dem Kasten an. Plunder hauptsächlich. Eine Postkarte. Eine Haarlocke. Eine kaputte Uhr, die, so sagte sie,
ihrem Vater gehört hatte. Nichts, das ihre Heimlichtuerei erklärt hätte. Ich fühlte mich ernüchtert, und auch mein Hals tat wieder weh.
    Da stand meine Mutter wieder auf, ging aus dem Zimmer und brachte den Stein zurück. »Ich hoffe nur, es gibt heute genug Sonne«, sagte sie, während sie ihn erneut neben mich legte.
    Der Stein hatte in der Sonne gelegen und fühlte sich ganz warm an, und auf seiner Oberfläche konnte man kleine Lichtmuster erkennen, wie die Ahnung von Sternen in der Nacht, nur grün. Ich hatte beinahe Angst, ihn in der Hand zu halten.
    »Nur zu«, sagte Ma. »Er beißt nicht.«
    Ich stupste den Stein, und plötzlich erwachte er zum Leben. Ein Bild erschien auf seiner Oberfläche, aber kein flaches, gemaltes, sondern eines wie aus der Wirklichkeit. Es strahlte geradezu. Und es bewegte sich. Und es sprach.
    Sechs oder sieben Mädchen waren zu sehen, alle offenbar ein wenig betrunken. »Wir halten dich für verrückt«, sagte eine von ihnen. »Aber wir lieben dich trotzdem.« Dann begann eine andere reichlich falsch zu singen: » The only man that could ever reach me, was the son of a preacher man.« Und wieder eine andere sagte: »Kein Prediger, du Dumpfbacke, ein Quäker.«
    Dann erstarrte das Bild und verblasste.

    »Es ist ein Erinnerungsstein«, sagte meine Mutter.
    »Wer sind sie?«
    »Freundinnen von früher.«
    »Wann früher?«
    »Bevor ich deinen Vater kennenlernte.«
    Ich glaube nicht, dass meine Mutter auf die Gefühle vorbereitet gewesen war, die der Stein in ihr weckte. Danach jedenfalls war sie mir gegenüber recht wortkarg. Und ich erinnere mich so gut an das, was der Stein sagte, weil ich oft selbst nach oben ging und es mir anhörte.
    Der Stein war wie kein anderes Objekt in unserem Haus – oder in unserer Stadt. So flach und glatt, ohne jede Spuren von Bearbeitung. Er war vollkommen, wie etwas, das aus einem Samen gewachsen war. Und doch enthielt er ein Stückchen Vergangenheit, ein Teil jenes Lebens, das meine Mutter zurückgelassen hatte.
    Die Mädchen in dem Erinnerungsstein sind heute alle tot. Und das, was sie besaßen, ist nun Staub. Ich erinnere mich: Eine von ihnen hat Lippenstift aufgetragen, und er ist etwas verschmiert, und es sieht aus, als habe sie jemanden geküsst. Wen? Einen Mann oder eine Frau? Ein flüchtiger Kuss auf die Wange oder leidenschaftlicher? Ist er es, der dort knapp außerhalb des Bildes steht, aber noch einen Schatten über die Weingläser wirft, dem sie einen Seitenblick
schenkt, ein Augenzwinkern, kurz bevor der Stein dunkel wird? Ich kann nicht einmal ansatzweise all das ermessen, was verloren gegangen ist, es passt einfach nicht in meinen Kopf hinein. Aber dieser Kuss geht mir nicht aus dem Sinn.

12
    MEINE ELTERN redeten nie von früher, und ich habe mich auch nie groß dafür interessiert. Die Vergangenheit hielt keine Lehren für mich bereit, meine Geburt erschien mir wie der Anfang der Welt. Für mich begann alles mit Wasser, das in der Sonne von feuchten Betttüchern tropft. Ich war der Schöpfer, der es mit einem Blinzeln Tag und Nacht werden ließ. Ich war Noah, wie ich meine angeschrammten Holztiere im Staub des arktischen Sommers sortierte. Ich lehrte meine Familie das Sprechen, und ich war der erste Mensch, der seinen Fuß in die Wildnis am Ende unseres

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