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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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haben. Aber sie werden es uns schon vergelten, da könnt ihr sicher sein. Ihr werdet alle kriegen, was mein Vater gekriegt hat. Sechs Fuß Erde für jeden von euch.«
    Dann ergriff ein Mann namens Michael Callard das Wort. Die Callards – Michael, Freya und ihre Zwillinge Eben und Liesl – waren eine jener Siedlerfamilien, die ihr Zuhause weiter südlich verlassen hatten. Sie waren mit fast nichts in der Stadt angekommen
und hatten einige Monate in unserem Haus gewohnt, ehe Michael ihnen ein eigenes auf der anderen Seite der Delamere Street gebaut hatte. Sie waren fromm und arbeiteten hart und waren bei den anderen Siedlern beliebt.
    Eben und Liesl waren achtzehn. Liesl war schüchtern und hübsch wie ihre Mutter. Eben arbeitete mit seinem Vater auf der Farm. Er war ziemlich stolz auf seine starken Schultern und seinen schlanken, braungebrannten Körper. Manchmal, nach einem langen Arbeitstag im Sommer, kam er in die Stadt geschlendert und trotzte den Mücken mit nacktem Oberkörper. Er war auch ein guter Reiter, und ein, zwei Mal waren wir auf den Feldern vor der Stadt mit Ponys um die Wette geritten. Es gab das Gerücht, dass wir eine Schwäche füreinander hätten, er verhielt sich in meiner Anwesenheit aber immer rücksichtslos und jährzornig, und die Wahrheit ist, dass ich Männer, die mir zu ähnlich waren, nie leiden konnte.
    Jedenfalls, Michael Callard erzählte, wie seine Farm im Süden von bewaffneten Männern angegriffen worden war, wie man sie zusammengetrieben und ihnen eine Stunde gegeben hatte, zu verschwinden. Er sagte, er sei wie die übrigen von uns hierhergekommen, um ein neues Leben unter Gleichen anzufangen, frei von Gewalt. Aber er wolle verdammt sein, wenn das bedeute, dass man ihn aus seinem
eigenen Heim verjagt oder ihm sein Essen wegnimmt oder seine Frau und Kinder verletzt. Er rufe die Wehrhaften unter uns auf, eine Miliz zu gründen und sich zu bewaffnen, um die Straßen zu sichern und die zu bestrafen, die die Gesetze der Stadt brechen.
    Man konnte erkennen, dass viele von seinen Worten ergriffen waren, selbst die, die sich eingeredet hatten, dass alle Formen von Gewalt falsch seien.
    Während Michael Callard sprach, sah ich, wie sich das Gesicht meines Vaters verfinsterte. Ich liebte Pa, aber ich war nicht wie er. Ich hatte nie das Beste von den Menschen erwarten müssen, ich nahm sie, wie sie waren: doppelzüngig, verzweifelt, liebevoll, manchmal alles auf einmal. Für meinen Vater aber waren sie alle Gottes Kinder, arme geplagte Schäfchen, die nur Liebe und eine faire Chance brauchten. Es war entscheidend für ihn, dass die Welt ihm bestätigte, was ihm seine Religion über die Menschen erzählte, und als es auf eine Wahl zwischen Vernunft und Glauben hinauslief, entschied er sich gegen die Vernunft.
    Sie stimmten ab, und mein Vater trug den Sieg davon, doch von diesem Moment an gab es zwei Parteien in der Stadt. Die eine, unter Callard, propagierte die Miliz und die Bewaffnung zum Zwecke der Selbstverteidigung. Die andere, die meinen Vater als
Anführer sah, mahnte, dem ursprünglichen Geist der Siedlung treu zu bleiben.
    Wenn ich so an meinen Vater zurückdenke, sehe ich etwas Kindliches in seinem Wunsch nach absoluter Perfektion. Er war ein recht ungeschickter Arbeiter und konnte sich tagelang mit etwas abmühen, das auf den Müll fliegen würde, wenn er es nicht hinkriegte. Ohne diese Mühe sah er keinen Wert in den Dingen. Aber diese Kindlichkeit speiste auch seine Intoleranz gegenüber anderen. Er mochte Ideen lieber als Menschen, weil sie weniger widersprüchlich waren. Und manchmal schien er eher einem Dieb oder einem Mörder vergeben zu können als einer Verspätung oder einer Widerrede. Mord oder Diebstahl waren weniger verstörend, weil sie von Grund auf schlecht waren. Vielfalt und Widersprüche dagegen setzten ihm zu. Er war wie der Gott der Methodisten – ein einziges Wort konnte einen für immer aus den Reihen der Erwählten verstoßen.
    Ich glaube, in seiner Liebe zur Arktis zeigte sich dasselbe Verlangen nach einfachen Wahrheiten: der Himmel, der Schnee, die Berge, die Bäume. Was ich in einer Stadt sah – als ich endlich eine echte zu Gesicht bekam –, war weitaus beunruhigender. Nichts passte zusammen, es war eine eigenartige Aufeinanderhäufung von Dingen, aber es lag Schönheit in
dieser Seltsamkeit und dem Gedanken, dass das alles von Menschen geschaffen war.
    Dagegen war die Lehre, die mein Vater gewählt hatte, wie die arktische Landschaft von einer

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