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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Stadtrand, bei Nacht konnte man ihre Feuerstellen sehen. Viele von ihnen waren Deserteure, sie waren jung, und selbst die Besten von ihnen waren wankelmütig und litten noch unter den Demütigungen des Krieges.
    Da waren wir also: Siedler, die der alten Welt abgeschworen hatten, nur damit sie wieder auf unserer Schwelle landete. Wir auf der einen Seite, die Verzweifelten und Gefährlichen auf der anderen. Es war, als träfen zwei verschiedene Spezies Mensch aufeinander: die, die eine Wahl hatten, und die, die keine hatten. Unvermeidlich, dass es zu Spannungen zwischen uns kam, zuerst unterschwellig, aber mehr und mehr entzündete sich der Ärger, wie eines dieser schwelenden Herbstfeuer aus feuchtem Laub.
     
    In dem Sommer, in dem ich vierzehn wurde, hatten sich einige russische Jungs in einer Scheune breitgemacht, die einer Siedlerfamilie namens Tumilty gehörte. Mr. Tumilty hatte gesagt, zwei von ihnen könnten bleiben, aber es kamen zehn, und schließlich gerieten sie darüber in Streit.

    Eines Nachts im August dann ging die Scheune in Flammen auf, und acht der Russen verbrannten. Sie hatten getrunken und Schaschlik zwischen den Heuballen gebraten, doch es ging das Gerücht, das Feuer sei absichtlich gelegt worden. Die wütenden Freunde der Toten gingen rüber zu Tumiltys Farm und warfen die Fenster ein. Und als er herauskam, um mit ihnen zu reden, machten sie ihn fertig. Er hatte ein schwaches Herz und hielt nicht lange durch.
    Die Kerle türmten, die Feindseligkeiten aber blieben. Siedler beschwerten sich, dass sie sich nicht sicher fühlten, Neuankömmlinge wurden angespuckt, und einige Ladenbesitzer weigerten sich, die kleinen Karten anzunehmen, die man an die Ärmsten von ihnen ausgab, damit sie sich Essen kaufen konnten.
    Familien, die seit Jahren befreundet waren, zerstritten sich über der Art und Weise, wie man die Ankömmlinge behandeln sollte. Etliche blieben der gemeinsamen Andacht fern und hielten sogar Konkurrenzveranstaltungen ab. Es wurde offensichtlich, dass unsere Stadt geteilt war.
    Und so wandte man sich an meinen Vater, eine der führenden Persönlichkeiten in der Stadt. Er berief eine Zusammenkunft der Familienoberhäupter ein – in jenem Versammlungshaus, in dem ich später die Finger fand.
    Es kamen allerdings so viele, dass wir uns vor dem
Haus versammeln mussten. Und es ging hoch her. Tumiltys Sohn und Witwe waren da, und Mrs. Tumilty hielt eine tränenreiche Rede, benannte die Mörder, flehte um Gerechtigkeit. Es gab viele, die Partei für sie ergriffen, es gab aber auch andere, die der Meinung waren, dass der Ruf nach Strafe und Vergeltung den Geist unserer Siedlung von Grund auf verändern würde. Zu dieser Zeit hatten wir noch keine Polizei, keine Gerichte, kein Gesetzbuch. Zwar hatte es zuvor schon Tote gegeben, aber keine Gewaltverbrechen. Dies war unsere Version von Kain und Abel.
    Man wartete darauf, dass mein Vater das Wort ergreifen würde. Er ließ sich Zeit, und als er es dann endlich tat, sprach er sich gegen Vergeltung aus. Pa war vom Neuen Testament erfüllt und wünschte sich, dass wir nur von Liebe und Mitgefühl geleitet wurden. Er erwähnte die Speisung der Fünftausend als Hinweis darauf, wie wir uns verhalten sollten.
    Tumiltys Witwe rief, dass wir keine magischen Brotlaibe besäßen, die Fünftausend ernähren könnten.
    Mit sanfter Stimme wies sie mein Vater daraufhin, dass die Brotlaibe nicht magisch waren. Das Wunder war die menschliche Natur, die sich in einem Geist guten Willens verhielt. Nur so kam es dazu, dass jeder der Fünftausend, als er den Fisch und das Brot
sah, in sein Gewand griff und das Essen herauszog, das er für sich selbst zurückbehalten hatte. »Furcht nährt sich von Furcht«, sagte Pa. »Wir müssen unseren Gästen Unterstützung anbieten und dürfen nichts im Gegenzug erwarten. Wir haben genug zu essen, und das Land um uns herum ist weit genug, um alle aufzunehmen, die gekommen sind, und noch mehr. Wir müssen nachgiebig genug sein, um uns in das Unvermeidliche zu fügen, und stark genug, um an unserem Glauben festzuhalten.«
    Tumiltys Sohn und Witwe nahmen ihm diese Worte ziemlich übel. Für sie klang es so, als ob mein Vater dem Toten vorwarf, nicht freigiebig genug gewesen zu sein. »Diese Leute sind nicht wie wir«, sagte Tumiltys Sohn. »Reich ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand. Und dann lachen sie sich ins Fäustchen über uns und halten uns für Narren, weil wir aufgeben, wofür wir unseren Schweiß vergossen

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