Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
kristallinen Ordnung: Frieden, Selbstvertrauen, Liebe, Unterordnung unter Gottes Willen. Und diese Einfachheit gab ihm die Kraft, andere zu überzeugen. Die Menschen fühlten sich zu ihm hingezogen, sie vertrauten ihm.
Bei alldem muss ich an einen Eisblock denken, dessen glasige Seiten von Sägezähnen gekräuselt sind. Wenn man ihn schmilzt, um Wasser zu gewinnen, bleibt er erst einmal makellos. Er seufzt lediglich und schrumpft ein bisschen. Aber sobald die Hitze an eine Luftblase in seinem Inneren kommt, bläht sich diese auf, und der Eisblock zerspringt in tausend Stücke.
Jenes Jahr war eines in einer ganzen Reihe heißer Sommer. Die Stadt platzte aus allen Nähten wie ein dicker Mann im Hochzeitsanzug – so viele Zuzügler, Quäker und andere, die auf der Flucht vor dem Hunger aus dem versengten Süden zu uns strömten. Den ganzen Juli hatte es Streitereien gegeben – Neuankömmlinge klauten Essen aus den Gärten oder besetzten leerstehende Gebäude und weigerten sich, wieder zu gehen –, und wie sich herausstellte, war
das, was mir passierte, der Funke, der den Heuhaufen in Flammen aufgehen ließ.
Trotz der verlorenen Abstimmung organisierten Callard und Tumilty ihre Miliz – mit Waffen, die sie von den Neuankömmlingen selbst kauften. Die Mehrheit der Bewohner jedoch stellte sich ihnen, angeführt von meinem Vater, entgegen. Sie folgten ihren Patrouillen mit Rufen und Glocken und setzten sich auf die Straße, so dass ihre Pferde nicht durchkamen.
Diese Auseinandersetzung zog sich etliche Wochen lang hin, in den Versammlungshäusern, in den Läden, auf den Straßen, in den Familien. Callard gewann immer mehr Anhänger, und bei uns war ich der Kuckuck, der das Wort gegen den eigenen Vater ergriff. Ich hatte einen einfacheren Gerechtigkeitsbegriff als Pa, und Michael Callard verlieh Gefühlen Ausdruck, die ich mein ganzes Leben lang gehabt hatte: Wenn mich jemand ins Gesicht schlägt, dann schlage ich zurück, egal was in der Bibel steht. Mein Vater kniff vor Missbilligung die Lippen zusammen und schickte mich auf mein Zimmer. Er spürte ohnehin, wie sich die Stimmung in der Stadt gegen ihn wandte, und eine Meuterei am eigenen Tisch war einfach zu viel.
In diesen Wochen verstanden wir uns schlechter als je zuvor. Der Druck, unter dem er stand, machte
ihn wütend und verbittert. Ständig wetterte er gegen Callard. Er hatte nach wie vor die Unterstützung der Siedler, doch sie wurde von Tag zu Tag geringer, und man brauchte seine Fantasie nicht allzu sehr zu strapazieren, um vorauszusagen, dass er bald alleine dastehen würde. Er verlor an Autorität – und er verlor die Stadt, für die er sein ganzes Leben gekämpft hatte. Und so warnte er jeden, der ihm noch zuhörte, was geschehen würde, wenn wir Callard folgten.
Was als Streit über die Auslegung unserer Gesetze begonnen hatte, wuchs sich zu einem erbitterten Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt aus.
Ende August verließen meine Mutter und mein Vater für einige Tage die Stadt. Pa liebte das Jagen und das Fischen und nahm Ma gerne auf seine Ausflüge mit. Immer, wenn sie zusammen fort waren, schlich ich mich zum Schlafen in ihr Zimmer. Ich mochte ihre dicke Matratze und das scheppernde Bettgestell, das sie aus Amerika mitgebracht hatten.
Es war nach Mitternacht, als ich die Tür quietschen und dann Atemgeräusche hörte. »Charlo?«, rief ich. Aber es war nicht Charlo, es war ein halbes Dutzend Männer mit Kissenbezügen über dem Kopf.
Für die Augen und den Mund hatten sie Löcher herausgeschnitten, und sie hatten Schaum auf den Lippen, als sie mich beschimpften. Ich rannte zum Fenster, um rauszuspringen, aber sie packten mich
und zogen mich zurück. Zwei von ihnen drückten mich auf das Bett. Ich bekam eine Hand frei, griff nach dem Wasserglas und schlug damit um mich. »Isebel!«, rief einer der Angreifer, und dann spürte ich etwas Nasses auf meinem Gesicht und dachte, er hätte mich geschnitten, aber es war die Lauge, die sie in unserer Küche gefunden hatten.
Das Gedächtnis ist gnädig. Ich erinnere mich nicht mehr an viel von dem, was danach geschah, jedenfalls ließen sie mich am Leben, und meine Eltern fanden mich am nächsten Tag, und offensichtlich sagte ich ihnen, dass Eben Callard der Anführer gewesen sei.
Ich habe mich seither oft gefragt, woher ich das wusste – ja, weshalb er so etwas hätte tun sollen –, aber die Jahre haben mich gelehrt, mich nicht zu sehr über die dunklen Dinge zu wundern, die Menschen tun. Es
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