Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
ist seltsam: Menschen verhalten sich nie grausamer als dann, wenn sie für eine Idee kämpfen. Seit Kain morden wir, um die Frage zu klären, wer Gott näher steht, und es kommt mir vor, als ob die Grausamkeit einfach in der Natur der Dinge liegt. Jedenfalls macht man sich verrückt, wenn man das alles persönlich nimmt. Die, die dich verletzen, haben nicht die Macht über dich, die sie gerne hätten. Genau deshalb tun sie ja, was sie tun. Und ich werde ihnen diese Macht auch jetzt nicht geben. Und doch:
Es war furchtbar, was sie mit mir machten, und als sie damit fertig waren, brach ein Splitter Einsamkeit ab und blieb für immer in mir stecken. Heute denke ich nicht mehr allzu oft daran, aber wann immer ein Bettgestell scheppert, spüre ich Panik in mir aufsteigen.
Was mir passiert war, tötete die Hoffnung in unserer Stadt. Und es tötete auch meinen Vater. Er nahm ein Rasiermesser, ging in den Wald und schnitt sich die Kehle durch. Wegen meiner Verletzungen konnte ich nicht auf seine Beerdigung.
Drei Wochen lag ich mit einem nassen Tuch auf dem Gesicht im Bett, um die Haut feucht zu halten und die Narbenbildung zu mildern. Die Schmerzen waren schlimm, aber woran ich mich vor allem erinnere, ist das Geräusch der Kämpfe auf der Straße vor meinem Fenster. Die Callards wurden aus der Stadt gejagt, und im Aufruhr gingen etliche Häuser in Flammen auf.
Als sie die Bandagen abnahmen, war die Haut wund und mein ganzes Gesicht aus dem Gleichgewicht – das linke Auge schlaff, der Mund schief. Ich behaupte nicht, dass ich vorher eine Schönheit gewesen war, aber ich war auch nicht unansehnlich gewesen, und es hatte Zeiten gegeben, in denen die Männer auf mich »reagiert« hatten. Aber nach dieser Sache begann ich, mein Haar kurz und wie ein Mann
zu tragen, und als sich die Stadtväter auf die Gründung einer Miliz verständigten, war mein Name der erste auf der Liste.
Wir waren bewaffnet und hatten das Recht, Leute festzunehmen. Wir hatten Gesetze, nach denen unsere Richter urteilen sollten, und Zellen für die, die sie brachen. Die eigentlichen Strafen aber waren nicht mehr als Verfügungen, die jene aus Stadt verbannten, die man eines Verbrechens für schuldig befand. Die Stadtväter hatten nicht den Mut für härtere Maßnahmen – eine bewaffnete Polizeitruppe war schon schlimm genug.
Zunächst gelang es uns noch, uns dem Chaos entgegenzustellen, aber mit der Zeit wurde es einfach zu viel. Wir fühlten uns wie jemand, der Mäuse in seinem Speiseschrank entdeckt, sie beim Schwanz packt, hinausträgt – und dann darauf wartet, dass sie sich wieder ihren Weg hineingraben.
So sehr wir uns auch bemühten, es wurde alles immer schlimmer. Früher hatte es Einigkeit darüber gegeben, wie man Streitfälle beilegen sollte – die Leute waren frei heraus und traten einander aufrecht entgegen. Immerhin hatten sie ihre Zukunft von diesem Experiment abhängig gemacht. Nicht alle mochten sich, aber man kannte einander. Nun tat sich eine Kluft zwischen uns auf, und diese Kluft füllte sich
mit Furcht und Feindseligkeit. Niemand wollte der letzte Unbewaffnete in der Stadt sein, und es gab eine Menge guter Gründe, sich zu bewaffnen. Wenn die Callards zu so etwas fähig waren, dann konnte man wirklich niemandem mehr trauen. »Wenn aber das Salz seinen Geschmack verliert, womit soll es gesalzen werden?«, fragten die Leute. Seit dem Tod meines Vaters gab es niemanden mehr, der für die alten Regeln kämpfte. Die Menschen warfen ihre mitgebrachten Ideale über Bord und kauften Waffen. Die Stadt veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit.
Außerdem schien das Chaos eine bestimmte Art von Vagabunden anzuziehen. In friedlichen Zeiten haben die Ruhigen und Geduldigen Erfolg, aber es braucht den hellwachen, rücksichtslosen Typ, um es im Chaos zu etwas zu bringen. Und wir, die Bewohner unser eigenen Stadt, waren die Komplizen.
Denn die Sache ist die: Für Leute, die die Bibel und den Glauben an ihrem Logenplatz in Gottes Plan mit der Muttermilch aufgesogen haben, ist eine weltweite Katastrophe etwas, auf das sie insgeheim gewartet haben. Seit Jahrhunderten hatten wir vom Jüngsten Gericht gesprochen, und nun schien es, als ob das Ende aller Tage wirklich gekommen sei. Die Menschen stürzen sich in eine Krise, als ob es eine Mutprobe wäre. Warum nur? Es ist doch viel klüger, sich zu verdrücken, mit dem Nötigsten zu verschwinden.
Nächstes Jahr kommt ein neuer Frühling, und in den Wäldern gibt es immer Essen, wenn man nur
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