Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
weiß, wo man suchen muss.
Die Heilige Schrift erfüllte sich also – nur nicht so, wie man es erwartet hatte. Keine Wiederkunft, keine Löwen und Lämmer. Nein. Eine wohlgeordnete, friedliche Stadt zerfiel zu einem Haufen hungriger Stämme, die um eine Wüste kämpften. In dieser Hinsicht könnte man die Bibel also durchaus ein prophetisches Buch nennen.
Bill Evans hatte seine Arbeit getan und suchte nach einer Möglichkeit, zurück nach Alaska zu kommen, als er bei der Schlichtung eines Streits getötet wurde. Das war jedoch erst später. Es brauchte ein paar Jahre, bis wir so weit waren.
13
ÜBER ZWEI WOCHEN hielten sie mich in diesem Keller gefangen. Es war ausreichend kalt, so dass es nicht allzu sehr stank, aber das war schon das Beste, was man darüber sagen konnte. Um nicht verrückt zu werden, ließ ich meine Gedanken schweifen, ja, ich errichtete eine Welt in meinem Kopf, in der sich die Dinge völlig anders entwickelt hatten, und dort verbrachte ich meine Zeit, nicht auf diesen schmutzigen Decken in der Dunkelheit. Ich stellte mir vor, wie Pings Baby zu einem Mädchen heranwuchs. Ich sah ihr Gesicht und ihr glattes schwarzes Haar, wie das ihrer Mutter. Ich nahm sie zum Baden mit an den See in den Bergen, und obwohl ihr Kinn in dem kalten Wasser zitterte, hatte sie einen starken Tritt wie ein kleiner Frosch.
Nach zehn Tagen wurde das Essen etwas besser. Sie gaben ein bisschen Fleisch und Kartoffeln in die Suppe. Offenbar wollten sie mich aufpäppeln, damit ich endlich arbeiten konnte. Ich fragte mich, ob sie wohl dumm genug sein würden, mir so etwas wie eine
Waffe in die Hand zu geben. Boathwaite wirkte nicht wie jemand, der Menschen unterschätzte, aber hoffen konnte man ja.
Dann, eines Morgens, öffneten sie die Tür, und statt die Blechplatte mit dem Essen hereinzuschieben kam ein Mann in den Keller, der die Schürze eines Hufschmieds trug. Er hatte einen Satz Handfesseln und ein Stück Kette dabei und wurde von zwei weiteren Männern mit Prügeln begleitet, die mich am Boden hielten, während mir der Schmied die Fesseln anlegte.
Ich wehrte mich etwas, aber nur, um die Männer zu beschäftigen. Einer nannte mich eine hässliche Schlampe und drohte mir mit seinem Prügel, aber er spielte sich nur vor seinem Kumpel auf, und indem ich mich wand, gelang es mir, einen Blick auf die Schlösser an den Handfesseln zu werfen.
Zu meinem Pech allerdings verstanden die Männer ihre Arbeit. Sie zwängten mich in einen Ledergurt und ließen die Kette durch eine Öse darin laufen, um die Handschellen mit einem zweiten Paar Fesseln an meinen Füßen zu verbinden.
Als ich wieder allein war, schlurfte ich in den hellsten Winkel meiner Zelle und hob die Kette ins Licht, um sie besser betrachten zu können. Sie war aus hochwertigem Stahl, schwer und sauber gearbeitet, und sie sah ziemlich neu aus. Es schien, als ließe
Boathwaite aller Not in Horeb zum Trotz bei seinen Feinden größtmögliche Sorgfalt walten.
Ich dachte über den Stahl nach. Wo kam er her? So wie das Weizenmehl in dem schalen Brot schien er die Möglichkeiten dieser Siedlung zu übersteigen. Der Hufschmied hatte die Kette um ein oder zwei Glieder gekürzt und die Öse in den Ledergurt gesetzt, doch verglichen mit der Kunstfertigkeit des Stahls mutete seine Arbeit grobschlächtig an. Es war eine schreckliche Vergeudung von Metall, aber schließlich hatten Boathwaite und ich ja auch ganz unterschiedliche Prioritäten.
Manchmal, wenn man einen langen Leidensweg gegangen ist, erweisen sich die kleinen Dinge als die, die einen zerbrechen. Die Kette gab mir beinahe den Rest. Es war nicht ihr Gewicht, sondern wie sie mir die Wärme entzog und wie sie klirrte, wenn ich mich bewegte. Ich begann, in Erinnerungen über die gute alte Zeit zu schwelgen – nicht die Zeit zu Hause, sondern die Zeit vor der Kette, als meine Zelle zwar auch schon stank und kalt war und das Essen schlecht war, ich mich aber noch frei bewegen konnte. Die Kette fiel mir immer mehr zur Last. Um es einigermaßen bequem zu haben, musste ich mich in einer unterwürfigen Haltung zusammenkauern, in den Dreck gedrückt, zu müde, mich zu rühren.
All die Fluchtträume kamen nun zu mir zurück, um mich zu verspotten – so unwirklich wie jene Träume, in denen Ping und ihr Kind noch am Leben waren. Wir sind nichts, wenn wir uns nicht bewegen können. Jedenfalls gilt das für mich, und so weigerte ich mich zu essen und hätte mich wohl zu Tode gehungert, wenn nicht nach zwei Tagen
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