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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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habe.
    Tolyas Reaktion bestätigte alle Befürchtungen. Er kam angeritten, und statt Zulfugar zu schlagen oder ihn sonstwie für seine Nachlässigkeit zu bestrafen, griff er in seinen Rucksack, holte ein neues Dosimeter heraus und heftete es ihm mit viel Getue an. Es war, wie einem Zaubertrick zuzusehen, den man durchschaut hatte: So viel Mühe sich der Zauberer auch gibt, einen in die Irre zu führen, man kann die Augen einfach nicht von der Karte in seinem Ärmel abwenden oder von dem Kaninchen, das hinter dem doppelten Boden seines Hutes zuckt.
    Zulfugar bedankte sich bei Tolya, doch als wir weiterzogen,
sah er mich vorwurfsvoll an und spuckte in den Schnee.
     
    Ich machte mir Sorgen wegen all der Lügen. Ich machte mir Sorgen, wohin wir gingen. Ich machte mir Sorgen um Shamsudin und Zulfugar. Und doch fühlte es sich gut an, unterwegs zu sein.
    Die Straße zur Zone war der alte Highway nach Jakutsk, der geradewegs nach Norden verlief, bis er auf die Lena traf und sich in einem zerfurchten Kiesfeld verlor. Von dort an war es eine Eisstraße. Früher hatte man diese Eisstraßen vor dem Winter hergerichtet und geglättet, jetzt mussten wir sie nehmen, wie sie waren. Sie konnten gefährlich sein, denn an manchen Stellen gefroren sie nicht richtig – wegen heißer Quellen in der Nähe oder der allgemeinen Erwärmung oder dort, wo der Fluss enger wurde und das Wasser zu schnell strömte, um von der Kälte gehalten zu werden.
    Immer wieder mussten wir vom Fluss abschwenken und uns durch die Taiga schlagen, wo wir nur langsam vorankamen. Wir kämpften uns durch den Schnee, bis das Eis auf dem Fluss wieder stark genug war, uns zu tragen.
    Immer näher kamen wir dem Polarkreis, und das Eis auf dem Fluss wurde erneut dünner, und wir mussten für das letzte Stück wieder in die Taiga.

    Wir ließen uns Zeit und teilten unsere Rationen mit den Gefangenen. Die Reise in die Zone war das Kameradschaftlichste, was ich in meiner Zeit im Lager erlebt hatte, und doch machte sich Schwermut unter den Gefangenen breit, je weiter wir nach Norden kamen. Normalerweise konnte man die Burschen kaum zum Schweigen bringen, jetzt zogen sich die Stunden in einer drückenden Stille hin, die nur vom Klirren der Ketten und vom Knirschen des Schnees gestört wurde.
    Wann immer wir unser Lager aufschlugen, zog Tolya einen Zerberus aus seiner Satteltasche und schwenkte ihn über den Boden. Er hatte zwei davon, und ein, zwei Mal gab er mir einen für das Feuerholz, um sicherzugehen, dass es sauber war, bevor wir es anzündeten. Ich hatte noch nie einen in Händen gehalten. Er war etwa so groß wie eine Handfeuerwaffe, nur viel klobiger und schwerer. Oben war eine Skala und hinten kamen ein paar Drähte raus. Für mich hatte es einen besonderen Nervenkitzel, das Ding zu benutzen, aber den Gefangenen war es unheimlich, vor allem, wenn es seine Geräusche machte.
    Die meisten Bäume waren sauber und unbedenklich, doch hin und wieder ließ ein Wäldchen den Zerberus aufzirpen. Das war wie in Buktygachak: Das Gift war bis ins Mark aller Dinge gedrungen. Die Strahlung war über das Land geweht worden,
und die Bäume hatten sie aus dem Erdreich aufgesogen. Für den Augenblick war sie in ihnen gefangen, aber wenn man ihren Rauch einatmete, verbrannte es einem den Hals, zerrieb es das Lungeninnere zu Brei. Und was immer dort aus dem Boden wuchs, man konnte es nicht essen, und alle Tiere, die dort geweidet hatten, waren ebenso vergiftet. Eines Tages wird das alles hier wieder sauber sein, aber das werde ich wohl nicht mehr erleben.
     
    Zwei Tage, nachdem wir die Lena verlassen hatten, wurden wir vom Geruch von Rauch und vom Knacken brennenden Holzes geweckt.
    Wir hatten unser Lager im Schutz einiger Bäume aufgeschlagen, wobei es zuvor eine lange Diskussion zwischen Tolya und einer der anderen Wachen, einem Mann namens Victor, gegeben hatte. Offenbar war einer der beiden nicht allzu begeistert von dem Lagerplatz. Wir lagerten dennoch dort, sammelten das Feuerholz allerdings aus der weiteren Umgebung.
    Als er die Flammen im Dunkeln sah, geriet Tolya in Panik. Auch sein Zerberus drehte völlig durch, jaulte und heulte wie ein Tier in der Falle. Die Gefangenen sprangen auf und schrien, sie würden vergiftet.
    Wir brachen auf der Stelle unsere Zelte ab, wichen,
so gut es ging, dem Rauch aus und ritten nach Norden, bis bei Tagesanbruch der brennende Wald endlich hinter uns lag und die schwarzen Rauchschwaden eine riesige Wolke bildeten, die mit ihrer flachen

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