Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
Vom Netzwerk:
hinunterschlang, während er auf den Fersen vor und zurück wippte. Dann, als die Sonne verschwand, kroch er unter ein Karibu-Fell neben dem Feuer und schlief ein.
     
    In dieser Nacht funkelten die Sterne wie irrsinnig. Silbrige Nebelstreifen hingen über den Bäumen, und noch immer kam Rauch aus dem Wald.
    Ich sah zu, wie mein Atem in den klaren Himmel stieg. Früher einmal hatten die Sterne Namen gehabt, jeder Einzelne davon, und sie hatten wie die Lichter einer vertrauten Stadt herabgeleuchtet, aber mit jedem Tag waren sie uns fremder geworden. Ich konnte mich am Polarstern und dem Großen Wagen orientieren, weil mir das vor vielen Jahren erklärt worden war, aber wo war der Große Bär? Der Arkturus? Andromeda? Oder der Gürtel des Orion? Konnte man im Januar die Venus in diesen Breiten so hoch sehen?
    Der Himmel wurde zu einer vergessenen Sprache. Was immer wir dort beobachtet hatten, was immer wir dort benannt hatten – es wurde für alle Ewigkeit aus dem Gedächtnis gelöscht.
    Einst hatten diese Flüsse Namen getragen. Diese
Hügel. Und vielleicht diese kleine Falte in der Landschaft.
    Vielleicht war das einmal ein Ort.
    Wir waren so verschwenderisch mit dem Wissen umgegangen, das unsere Vorfahren zentimeterweise aus dem Dreck gezogen hatten. Die Namen von Pflanzen und Metallen und Steinen und Tieren und Vögeln. Die Bewegung der Planeten und der Wellen. Das alles verblasste, wie die Worte einer lebenswichtigen Botschaft, die irgendein Trottel mit seinen Hosen gewaschen und dadurch völlig ruiniert hatte.
    Hier waren wir also, einen Tagesritt vor der Zone, und schickten uns an, dem Land jene Sachen zu rauben, die herzustellen wir nicht länger das Wissen oder die Mittel hatten. Und wenn sich einmal die Zone erschöpfte, würden wir uns glücklich schätzen können, wie dieser Junge hier vergiftete Tiere in einem Wald zu jagen, dessen Namen wir nicht mehr kannten. Dieser Junge war unsere bestmögliche Zukunft.
    Ich legte mich zum Schlafen hin und dachte, so sehr ich das Vergangene auch vermisste, war das hier vielleicht doch das Beste: dass die Welt für einige hundert Jahre oder auch länger brach lag und der Regen sie rein wusch. Wir würden eben eine weitere Schicht im Erdboden sein, ein wenig höher als die Römer und die Leute, die die Pyramiden gebaut hatten. Ja genau,
Makepeace, vielleicht wird dein Unterkiefer eines Tages in einem Museum liegen. »Frau europäischen Ursprungs. Beachten Sie die abgenutzten Schneidezähne und die Anzeichen von Mineralienmangel, die auf eine spärliche und einseitige Ernährung hindeuten.« Und daneben ein paar Tonscherben.
    Und irgendwann zieht sich das Wasser zurück, und die Sonne strahlt am Himmel, und die Pflanzen wachsen. Ich hatte nie Zweifel, dass etwas von uns überdauern wird, aber mich selbst zähle ich nicht dazu. Und all die Bücher, die ich gerettet habe, werden als Mulch und Vogelnester enden.
    Irgendetwas aber wird überdauern … Es hatte nur nichts Tröstliches, wenn ich mir den Tag ausmalte, an dem die Sintflut endlich vorüber war und die dunklen, glitschigen, ehemals menschlichen Wesen darauf warteten, aus der Arche zu kriechen.

4
    BEIM ERSTEN LICHT des Tages waren wir schon wieder unterwegs, die Wolken über uns ein Gebirge aus Schwarz und Rot.
    Ich weiß nicht, ob es die Stimmung unter den Männern an diesem Morgen war oder die Grabesstille dieses vergifteten Landes, ich hatte jedenfalls eine böse Ahnung, was unser Ziel anbelangte. Und ich hatte Angst, dass Tolya den Jungen töten würde, um sich die Mühe zu sparen, ihn mitzuschleppen, also übernahm ich die Verantwortung für ihn und ließ ihn hinter mir hertrotten. Er fügte sich in sein Schicksal wie ein Herdentier.
    Es dauerte etwa zwei Stunden, bis wir den Kamm eines flachen Hügels erreicht hatten. Der Junge und ich waren die Letzten, die oben ankamen. Die anderen standen schweigend da und blickten ins nächste Tal hinunter.
    Dort waren die Ruinen einer Stadt – und keine Stadt wie meine mit ihren kleinen putzigen Häusern, die vom Wasserturm überragt wurden, sondern eine
Stadt aus Glas und Beton, mit Bauwerken, die bis in den Himmel zu reichen schienen, und einer Brücke, die einen riesigen Abschnitt des Flusses überspannte. Grau und reglos lag all das da, und Vögel kreisten über den stillen Häusern und Plätzen und Straßen.
    Auch wenn einige der Gefangenen die Gelegenheit ergriffen hatten, einen Schluck Wasser oder einen Bissen Brot zu sich zu nehmen, so hatte sie der Anblick

Weitere Kostenlose Bücher