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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Oberseite wie ein Amboss aussah.
    Im Licht der Dämmerung wirkten die Gesichter der Gefangenen blutleer und völlig ausgelaugt vor Erschöpfung, also hielten wir an und ruhten uns für den Rest des Tages aus. An diesem Abend war die Stimmung so bitter wie Wermut.
    Bei Tagesanbruch teilte Tolya die Wachen auf und ritt mit der einen Hälfte zurück, um herauszufinden, wer das Feuer gelegt hatte. Sie machten einen weiten Umweg, um den nötigen Abstand zur grauen Giftwolke zu wahren.
    Ich blieb bei den Gefangenen zurück. Tolya hatte mir den zweiten Zerberus in die Hand gedrückt, damit wir Feuerholz sammeln konnten, also zog ich mit Shamsudin und Zulfugar los.
    Den beiden beim Schwitzen zuzusehen – erst schlugen sie das Holz, dann luden sie es auf den Schlitten –, fühlte sich nicht sehr angenehm an. Wegen mir hatte man sie aus dem Lager geschleppt und belogen – und wofür das alles?
    Ich schwang mich aus dem Sattel. Die Stute beschnupperte hungrig einen Grasbüschel am Fuß eines Baums, und ich band die Zügel um einen Ast,
damit sie nicht auf Wanderschaft ging und das ganze Gift hier fraß.
    Zulfugar war ein wenig weiter weg gegangen und brach Zweige von einer toten Birke, also ging ich zu Shamsudin, um mit ihm zu reden.
    Er schlug gerade mit einer kleinen Axt Holz zurecht, so dass es besser auf den Schlitten passte. Ich legte ihm ein paar Stücke hin und sagte, es täte mir leid, dass man ihn getäuscht hatte, und ich wüsste genauso wenig wie er und ich würde nicht zulassen, dass ihm etwas Schlimmes passierte.
    »Das steht nicht in deiner Macht«, murmelte er.
    Ich widersprach ihm nicht, aber ich dachte, dass wir mit ein paar Pferden mehr alle drei von hier verschwinden könnten, ehe Tolya mit den anderen Wachen zurückkam.
    Das Leben im Lager funktionierte dadurch, dass die Wachen sich über ihre Privilegien von den Gefangenen abgrenzten, und ich wollte Shamsudin unbedingt klarmachen, dass Boathwaite es nicht geschafft hatte, meine Loyalität mit einem Bordell und Kaffee aus Löwenzahnsamen zu kaufen.
    Shamsudin warf eine Ladung Holz auf den Schlitten. »Zulfugar sagt, dass im Norden eine verseuchte Stadt liegt. Er sagt, dass man uns als Grabräuber einsetzt, um von den Toten zu stehlen.«
    »Woher will er das wissen?«, fragte ich. Es klang,
als könnte es stimmen, aber es klang auch wie eines jener wilden Gerüchte, mit denen die Männer einander Angst einjagten. Es gab eine Art von Wettbewerb, das möglichst düsterste Motiv hinter Boathwaites Verhalten zu entdecken.
    Ich bückte mich, um einen heruntergefallenen Ast aufzuheben, und rutschte unversehens aus. Das Profil meiner Stiefel hatte sich mit Schnee gefüllt, der sich zu einem Pfannkuchen aus Eis plattgetreten hatte und nun keinen Halt mehr bot. Ich klatschte mit der Nase voran in den Schnee und musste beinahe über mich selbst lachen.
    Shamsudin näherte sich, und ich dachte, er wolle mir aufhelfen, aber dann sah ich die Axt an seiner Seite aufblitzen, und statt Belustigung stand tödlicher Ernst in seinen Augen.
    Ich hätte es verstanden. Shamsudin sah aus wie ein hungriger Hund, der die Länge der Kette, an der er hing, gegen die Entfernung eines saftigen Knochens abwog und sich fragte, ob er etwas zu fressen kriegen oder sich erwürgen würde.
    Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich war auf mein Gewehr gefallen, so dass ich es erst mühsam würde hervorziehen müssen, und selbst wenn mir das gelang, war es noch gut möglich, dass es versagte. Ich frage mich bis heute, was ihn in diesen Sekunden zurückhielt. Ich will glauben, dass es
seine Zuneigung zu mir war, sein Anstand, seine Religion oder seine Ausbildung als Arzt – »Schade nie jemandem«, heißt es nicht so? Vielleicht kamen ihm aber auch bei näherer Betrachtung Zweifel, und sein Verstand gewann die Oberhand: sie beide, mit nur einem Pferd, ohne Aussicht, die Ketten loszuwerden … Vielleicht fehlte es ihm aber auch nur an Mut.
    Shamsudin gehörte zu jener Sorte Mensch, die es früher millionenfach gegeben haben musste. Schlau und einnehmend, aber mit einem dünnen Band zwischen sich und der Welt. In ihm steckte mehr als in einem ganzen Buch, und er wusste mehr als die meisten darüber, wie es so weit mit uns hatte kommen können – und doch kam eine Bestie wie Hansom weitaus besser in dieser neuen Welt zurecht. Shamsudins sanfte Hände zögerten einen Augenblick zu lang. Dann war Zulfugar zurück, der keuchend eine Ladung Äste schleppte, und Shamsudin blickte

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