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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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schuldbewusst zur Seite. Und in diesem Moment sprang ich auf.
    Shamsudin hob die Hände über den Kopf, während ich sie beide mit dem Gewehr in Schach hielt. »Seht zu, dass ihr das Ding beladet«, sagte ich.
    Die beiden tauschten einen Blick. Sie hatten die Gelegenheit verpasst – und waren erleichtert darüber.
    Schweigend gingen wir zurück zu den anderen.

    Am späten Nachmittag dann kamen Tolya und die anderen Wachen zurück. Ein Tungusenjunge stolperte hinter ihnen her, die Handgelenke gefesselt und an Tolyas Sattel gebunden. Eines seiner Augen war zugeschwollen, und an seinen Nasenflügeln klebte getrocknetes Blut. Er sah nicht älter aus als vierzehn.
    »Er hat das Feuer gelegt«, sagte Tolya.
    Die Wachen umringten den Jungen. Er zitterte sichtlich und hielt den Blick auf seine zerlumpten Fellstiefel gerichtet, die von Lederriemen zusammengehalten wurden. Alles, was er trug, schien kurz vor dem Auseinanderfallen zu sein. Er stank nach Holzrauch, und sein Gesicht war fleckig vor Ruß. Er wirkte wie eine winzige Maus, die einem vor lauter Angst in der Hand stirbt, wenn man sie hochnimmt.
    Tolya schlug dem Jungen über den Kopf, und dann setzten ihm die anderen mit weiteren Tritten und Schlägen zu. Der Junge ließ die Prozedur teilnahmslos über sich ergehen – weil er sich selbst aufgegeben hatte oder weil er schlau genug war, sich nicht zur Wehr zu setzen, das war schwer zu sagen. Nach ein paar heftigen Treffern jedenfalls fiel er in den Schnee. Seine fettige schapka landete etwas von ihm entfernt.
    Das hinderte die Männer nicht daran, ihn weiter zu verprügeln. Was ist es nur an einem hingestreckten Körper, das Menschen so mörderisch macht?
Zum Glück für den Jungen war der Schnee ziemlich tief, und ihre Filzstiefel dämpften die Tritte. Außerdem waren die Wachen, anders als die Gefangenen, fett und träge, und wurden nach einiger Zeit müde.
    Also ließen sie schließlich von ihm ab und fluchten und rangen nach Atem. Tolya sagte, der Junge hätte im Wald Fleisch geräuchert, in einem kleinen Lager, das völlig ausgebrannt war, und so wie es ausgesehen hatte, war er schon seit Monaten dort gewesen.
    Mit meinem Gewehrlauf hob ich den Hut des Jungen auf und warf ihn ihm zu. Vermutlich war es keine gute Idee, vor den Männern ein zu weiches Herz zu zeigen, aber das kleine Geschöpf tat mir leid. Ich ging neben ihm in die Knie und sagte die paar Worte Tungusisch, die ich kannte. Er hatte sich zusammengerollt und hob nicht mal den Kopf, um mich anzusehen. Offenbar war seine Nase gebrochen. Blut und Spucke hingen an seinem Mund. Ich musste an Ping denken – brachte jede Begegnung mit einem Fremden Tod oder Verletzung mit sich?
    Tolya und eine Wache namens Stepan stellten sich neben mich und fragten, was ich da zu ihm sagte.
    Ich erwiderte, es wäre schwachsinnig, ihn so zu verprügeln, denn jetzt würden wir kein vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen. Stepan sagte, dafür würde er schon sorgen, und er packte den Jungen und schüttelte ihn und schrie: »Woher kommst du?
Wo verstecken sich deine Freunde? Für wen spionierst du?«
    Dieser Stepan war eigentlich kein schlechter Kerl, aber genau wie die anderen hatte er Angst. Sie wussten nichts von der Welt außerhalb des Lagers, und in ihrer Vorstellung malten sie sie sich als von Monstern bevölkert aus. Hier, nur ein paar hundert Meilen nördlich von dem Ort, an dem sie lebten, fühlten sie sich, als wären sie auf dem Mond gelandet.
    Eine der anderen Wachen mahnte zur Vorsicht – es könnte ja ein Wolfsjunge sein. Diese wilden Kinder hätten keine Sprache und äßen rohes Fleisch, und manche von ihnen gingen sogar auf allen vieren und könnten einem mit bloßen Zähnen die Kehle rausreißen. Und so weiter. Ich lachte ihm fast ins Gesicht. Ich bin im Norden weit herumgekommen, und wenn es hier so etwas wie Wolfskinder gäbe, hätte ich eines davon zu Gesicht kriegen müssen.
    Es war offensichtlich, dass der Junge keine Intelligenzbestie war, also sagte ich, er wäre ein Idiot und es brächte Unglück, ihm wehzutun. Es gab nicht viel, was diesen Männern heilig war, aber sie glaubten bereitwillig allen möglichen Quatsch über Glücksbringer und dunkle Omen und schwarze Magie.
    Der Junge blieb gefesselt, doch von nun an ließen sie ihn in Frieden.
    Am Abend aßen wir Dörrfleisch, das wir aus dem
Lager mitgebracht hatten – das Wild hier in den Wäldern war nicht genießbar –, und immer wieder warfen die Wachen dem Jungen Reste zu, die er gierig

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