Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
Vom Netzwerk:
zusammenklappte, als hätte sich etwas Großes auf sie gesetzt.
    In den darauffolgenden Jahren besuchte ich zwei, drei Mal die Ruine und sah mir Pankovs Holzfiguren an. Er hatte ganze Baumstämme in überbordende Säulen voller Schlangen und Dämonen und barbusiger Frauen verwandelt, die unsere Ältesten höflich ignoriert hatten, als sie seine Leiche geholt hatten.
    Was immer das Haus zum Einsturz gebracht hatte – Schnee? Holzwürmer? –, es hatte die Einrichtung überall verteilt. Und neben dem ganzen Kram, den man erwartet hatte – zerrissene Bettwäsche, halb heruntergebrannte Kerzen, schimmlige Schuhe, zerbrochenes Glas –, lagen Stapel von Noten. Was mussten sie ihm bedeutet haben, die hübschen Linien und die vielen schwarzen Punkte, dass er sie all
die Jahre aufgehoben hatte, gab es doch nie jemanden, mit dem er sie hätte teilen können – kein Instrument, nur die Stille des Waldes und das leise Ächzen seines Körpers, der nach und nach seinen Dienst einstellte …
    Nein, ich wollte nicht wie Pankov enden, wollte mein Leben nicht in einem Wartezimmer absitzen, bis zu dem Sturz, der mich tötete, oder dem Unfall, der mich hilflos machte. Aber ich ahnte, dass es mir so ergehen könnte. Zwischen der Welt meiner Jugend und der Welt, in der ich jetzt lebte, lag eine so breite Kluft, dass es mir immer schwerer fiel, sie zu überbrücken, und sei es nur in meiner Vorstellung.
    Hatte ich wirklich von einer Welt geträumt, in der die Menschen mit Flugzeugen flogen, es Essen in Hülle und Fülle gab, und wir, die Siedler weit im Norden, als Primitive galten?
    Das Dasein im Lager lieferte jeden Beweis menschlicher Barbarei, den man nur brauchte. Und doch, wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblickte, schien es mir, als wären es die einsamen Zeiten, die am wenigsten Sinn ergaben.

2
    SOBALD ICH WIEDER stark genug war, nahm ich mein Essen mit den Wachen in der Messe ein, wo man – neben dem, was auch die Gefangenen bekamen – Fleisch und eine Art Kaffee servierte. Die anderen Wachen schienen weniger überrascht als ich, dass Boathwaite mich befördert hatte.
    Es war nicht das Paradies, wie die Gefangenen es sich vorstellten, aber wir aßen besser und hatten regelmäßige Ruhezeiten.
    Und doch herrschte unter den Wachen ein Argwohn, den ich nicht ganz begriff, gab es doch so vieles: einen kleinen Laden, in dem wir mit Papierscheinen einkaufen konnten, ein Dampfbad und – tatsächlich – ein Bordell. Dafür hatte ich allerdings nie Bedarf, und schon der Anblick der Frauen auf der Veranda, wenn sie sich unterhielten und ihr Haar ausbürsteten, erinnerte mich viel zu sehr an Ping.
    Wir alle lebten innerhalb des Lagers, doch es gab noch einen höheren Rang von Wachen, die in der Siedlung außerhalb wohnten. Ja, einige von ihnen
hatten sich dort niedergelassen und eine Familie gegründet.
    Ich hatte meinen Plan, mich im Frühling aus dem Staub zu machen, nicht aufgegeben. Tatsächlich wäre es jetzt viel einfacher gewesen, hatten sie mir doch eine alte ölige Waffe und ein paar Kugeln gegeben, und ich wusste nun, wo ich ein Pferd stehlen konnte. Da war aber noch etwas, um das ich mich erst kümmern wollte.
     
    Im Februar rief Boathwaite einige von uns zusammen und sagte, er würde wieder einen Trupp Gefangene zur Arbeit in die Zone schicken. Zehn Wachen würden sie begleiten, und ich wäre eine davon. Der Russe Tolya, Boathwaites rechte Hand, war der Anführer dieser Gruppe, er war schon etliche Male in der Zone gewesen. Von den anderen Wachen waren vier, darunter ich, noch nie dort gewesen, aber allzu viel Neugierde oder zu viele Fragen waren nicht angesagt – wir taten, als wäre es das Normalste auf der Welt und als machten wir eben dasselbe wie die anderen.
    Und so wählte jeder von uns beim Morgenappell zwei Gefangene aus. Die erfahrenen Wachen gaben sich reichlich Mühe, die stärksten Männer auszusuchen, ihre Muskeln durch die Kleidung zu fühlen, die Klarheit ihrer Augen zu prüfen. Als schließlich
ich dran war, schritt ich langsam die Reihe ab, versuchte, mich nicht allzu sehr mit der Verzweiflung in ihren Gesichtern aufzuhalten, und tat so, als taxiere ich sie. Es war seltsam, wie anders sie mich nun ansahen, jetzt, da ich ein wenig Macht über sie hatte. Ich zögerte eine Weile, um es so aussehen zu lassen, als wäge ich meine Möglichkeiten ab, dann nickte ich Shamsudin und Zulfugar zu.
     
    Die zwanzig ausgewählten Gefangenen mussten wegtreten und ihre Sachen aus den Baracken holen. Dann

Weitere Kostenlose Bücher