Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
doch ebenfalls in den Bann geschlagen.
Tolya reichte sein Fernglas herum, und durch das Glas betrachtet sah die Stadt wie ein Mund voll verrotteter Zähne aus. Aber ihre Ausmaße waren wirklich atemberaubend. Weit hinten, auf einer Anhöhe über der Stadt, stand ein Turm, der an die hundert Meter hoch sein musste. Er sah zu dürr aus, um nicht umgeweht zu werden, und doch war da auf seiner Spitze eine große Scheibe mit Fenstern angebracht, die sich über alle Naturgesetze lustig zu machen schien. An der östlichsten Biegung des Flusses erhoben sich aus einem riesigen rechteckigen Kasten drei Schornsteine, jeder mit roten und weißen Streifen markiert. Aus dem Gebäude selbst entsprang ein Netzwerk aus Kabeln, das von stählernen Beinen zur anderen Seite des Flusses getragen wurde, wo es sich dann in der Ferne verzweigte.
Nachdem wir uns ausgeruht hatten, stiegen wir zum Fluss hinab und ritten am Ufer entlang zur Brücke.
Wir brauchten etwa eine Stunde, um dorthin zu gelangen, doch je näher wir kamen, desto langsamer wurden wir. Nicht aus Furcht, sondern weil es so viel zu sehen gab. Jeder reckte seinen Kopf hierhin und dorthin, saugte all das in sich auf. Ja, die Gefangenen, die ins Herz der Stadt gehen würden, schienen geradezu begeistert.
Die Ufer des Flusses waren mit Betonplatten belegt, die sein ursprüngliches Bett verschmälert hatten, und so war er selbst im Winter nicht gefroren.
Auf der anderen Seite des Flusses erhoben sich gigantische Türme. Wie viele tausend Menschen hatten in diesen Türmen gelebt, als die Stadt noch bewohnt gewesen war? Und wie viele tausend Städte wie diese hatte es auf der ganzen Welt gegeben? Früher mussten die Flugzeuge in der Lage gewesen sein, eine solche Stadt aus der Luft zu erkennen: die Umrisse der Straßen, das Leuchten der Fenster.
Bestimmt war mein Flugzeug von einer Stadt wie dieser losgeflogen – ja, vielleicht sogar einer noch größeren – , von einem Ort, der sein Wissen bewahrt hatte, einem Ort, an dem die Menschen jeden Tag erwachten, um ihren Beitrag zu jenem großen Werk zu leisten, das seit undenklichen Zeiten andauerte – anstatt jeden Tag wie Adam zu erwachen und sich Nahrung und Kleidung aus dem Garten nehmen und sich Namen für die Bäume ausdenken zu müssen.
Wir gingen bis zur Mitte der Brücke, wo eine einsame Straßensperre aufgestellt war. Etliche Rollen verrosteter Stacheldraht lagen im Schnee herum. Ab hier würden die Gefangenen alleine weitergehen. Sie waren aufgeregt wie Kinder, einer von ihnen pinkelte sogar von der Brücke hinunter, nur weil er das noch nie gemacht hatte. Der Strahl beschrieb einen Bogen und wurde zu einem feinen Sprühnebel, ehe er die Betonpfeiler in der Tiefe traf.
Dann sahen wir ihnen nach, wie sie die Brücke entlangtrotteten – wie eine Trauerversammlung, die ihre Plätze bei einem Begräbnis einnimmt. Und doch: In diesem Augenblick beneidete ich sie um das, was sie finden würden.
Beim Anblick der Himmelslichter werde ich jedes Mal von Ehrfurcht und Staunen ergriffen, aber ich weiß, dass sie ein Werk der Natur sind. Auf dieser Brücke stehend, den Blick auf die Stadt gerichtet, war alles in meinem Gesichtsfeld von Menschenhand errichtet worden. Menschen hatten diese Türme errichtet und diese Dächer verkleidet. Menschen hatten diese Leitungen zwischen den Masten verlegt. Ich weine nicht so leicht, aber meine Augen wurden feucht, als ich auf die Ruinen dessen blickte, was wir einmal gewesen waren, und verfolgte, wie diese kleine, in Lumpen gehüllte Gruppe von Männern darauf zuging, um wie Vögel
auf dem Kadaver eines Riesen daran herumzupicken.
Nachdem sie die Brücke überquert hatten, gelangten die Gefangenen auf einen großen Platz, von dem drei Straßen abzweigten – zwei führten rechts und links am Ufer entlang, die dritte verlief einen Boulevard hinab, der von verdorrten Kastanien gesäumt war, mitten ins Herz der Stadt.
Einige von ihnen gingen in die Knie und überlegten offenbar, was sie als Nächstes tun sollten. Dieses ungewohnte Gefühl – niemand, der ihnen im Nacken saß, die Weite um sie herum – musste ihnen wie ein Hauch von Freiheit vorkommen.
Die Wachen jedoch gaben grelle Pfiffe von sich, und Tolya hob sein Gewehr und rief, sie sollten weitergehen, wir würden in vierundzwanzig Stunden an der gleichen Stelle auf sie warten.
Und so bewegte sich einer nach dem anderen die Straße in die Stadt hinab, bis sie außer Sicht waren und nur noch kleine Wölkchen gefrorenen Atems
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