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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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von ihm gemaltes Heiligenbildchen war. So wie zuvor die Flasche, ging dieses Bild von Hand zu Hand. Osip sah es sich ziemlich lange an und küsste dann den Rahmen, bevor er es an mich weiterreichte.
    Das Bild zeigte Maria mit dem Jesuskind und war bestimmt nicht größer als fünf auf fünf Zentimeter.
Ich bin kein Experte für diese Art von Malerei, doch es musste eine ruhige Hand gebraucht haben, um es anzufertigen.
    Tolya sagte, seinem Dorf sei es noch einigermaßen gutgegangen, als die Zeit des Hungers anbrach. Die Bewohner waren mit Essen eingedeckt, das Wetter, das dem Süden die große Dürre gebracht hatte, hatte ihre Ernte eher begünstigt.
    Das Dorf lag etwa hundert Meilen von Ulan-Ude entfernt, und Händler kamen aus der Stadt und boten ihnen horrende Preise für ihre Lebensmittel. Doch die Dorfbewohner waren gierig, sie beschlossen zu warten, bis die Preise ihren Höchststand erreichen würden. Tolya sagte, er hätte sie gewarnt, aber es hätte nichts bewirkt. Die Leute, die als Nächstes auftauchten, waren voller Zorn darüber, dass die Dorfbewohner ihre Kinder Hunger leiden ließen, und sie holten sich Verstärkung und nahmen sich das Essen und brachten alle um, die ihnen Widerstand leisteten.
    Felix fragte, wie viele von uns denn in einer richtigen Stadt aufgewachsen seien. Niemand war das. Und niemand außer mir hatte Eltern, die aus einer richtigen Stadt gekommen waren. Auch das war keine Überraschung – ohne Strom und sauberes Wasser waren die Stadtbewohner wie die Fliegen gestorben.
    »Was ist mit dir, Makepeace?«, fragte Osip und lächelte
mich an. Ich hatte als Einzige noch nicht von meinem früheren Leben erzählt. »Wie ist es dir ergangen? «
    »Jemand hat Lauge über mich geschüttet«, sagte ich.
    Sie alle blickten mich an, erwarteten, dass ich fortfuhr, aber ich hatte keine Lust, ihnen von Eben Callard zu erzählen und davon, was mir Schlimmes passiert war.
    Nach einer Weile gab Tolya eine Kerze in eine verbeulte Laterne, zündete sie an – wir mussten ohne ein Feuer auskommen, weil das ganze Holz in der Gegend verseucht war – und stellte die Laterne so neben sich, dass sie ihn in ein bronzefarbenes Licht tauchte. Und auf einmal schien es mir, als ob er das alles genau so geplant hatte: der Schnaps, die Geschichten, jetzt die Laterne wie ein Licht auf einem Altar. Ganz so, wie er früher seine Gottesdienste geplant hatte.
    Er blickte uns an, einen nach dem anderen, und dann sagte er, er wisse, wie sehr wir unser altes Leben vermissen, aber es gäbe leider keine Hoffnung, es in unserer Zeit wiederzuerlangen. Das läge in der Natur der Dinge: Zivilisationen stiegen auf und fielen wieder, und man konnte nichts dagegen tun. Aber wir hätten Glück – wir seien Teil eines Planes, die Welt wieder auf den rechten Weg zu bringen.

    Inzwischen war die Ikone einmal ganz herumgereicht worden, und Tolya hielt sie wieder in der Hand. Und er sprach von seinem Leben im Priesterseminar. Davon, wie die Mönche, indem sie die alten Schriften immer wieder neu abschrieben, all das Wissen bewahrten, das sonst verloren gegangen wäre.
    Eines musste man ihm lassen: Er hatte eine wundervolle, tiefe Stimme und strahlte eine priesterliche Ruhe aus. Der Alkohol tat sein Übriges, und so lauschten wir Tolyas Geschichte – denn es war die Geschichte, die wir hören wollten.
     
    Vor langer Zeit, erzählte Tolya, war die Zone genau das gewesen, wonach sie von der Brücke aus aussah: eine große Industriestadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern namens Polyn.
    Der Teil von Polyn, der auf der anderen Seite des Flusses lag, war mindestens dreihundert Jahre alt und einst als Hafen für den Flussverkehr gegründet worden. Felle, Holz und Gold aus dem Norden wurden von hier zu den Verladebahnhöfen im Süden gebracht. Einen Teil des Jahres wurden die Güter mit Frachtkähnen transportiert und in den Wintermonaten – bevor die Ufer befestigt wurden und der Fluss nicht mehr zufror – auf dem Eis.
    Doch jenseits dessen, was man von der Brücke aus sah, war die Stadt sehr viel jünger, ja, dort lag sozusagen
eine zweite, eigenständige Stadt, kein halbes Jahrhundert alt und zu ihrer Zeit einer der fortschrittlichsten Orte der Welt. Und sie war hier errichtet worden, weil man geheim halten wollte, was in ihr vorging.
    Man wollte keine Stadt mit zu vielen Verbindungen zur Außenwelt und auch keine, die weit abgelegen irgendwo in der Wildnis lag – beides hätte eine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen –,

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