Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
von der Macht des Gifts, das man über ihr ausgestreut hatte. Ein toter Ort, so groß und gewaltig, dass er ebenso gut von Göttern erbaut hätte sein können. Ein Ort, der unsere zusammengeflickten Kleider und unser zusammengeräubertes Essen zum Gespött machte.
Was für eine Art Errettung sollte das sein?
Ich ging bis zu dem Platz am Ende der Brücke und sah, dass sich die Gefangenen hier weniger ausgeruht als erleichtert hatten. Offenbar hatten sie angesichts der Strahlung, vor der man sie gewarnt hatte, Angst gehabt, sich dafür einen geschützteren Platz zu suchen, aber irgendwie lag es auch an der Größe dieser Stadt, die man bis in seine Eingeweide zu spüren meinte. Die paar Male, die ich einen Einbruch hatte aufklären müssen – als Einbrüche noch etwas waren, wegen dem man sich Sorgen machte –, hatten die
Diebe immer direkt vor das Haus geschissen, in das sie eingebrochen waren. Was wie eine Geste der Verachtung wirkte, waren eher Angst und die Aufregung vor der Tat. Und so ging es auch den Dieben, die wir losgeschickt hatten. Sie hatten die Straßen dieser einst so sauberen Stadt beschmutzt.
Ihre Spuren führten die große Straße hinab, zu welchem Ziel auch immer sie Apofagatos Karte führte. Die Bäume und die großen Häuser verschluckten das Licht, aber etwa fünfzig Meter weiter war eine Lücke zwischen den Gebäuden, und etwas Sonnenlicht fiel auf die Straße. Ich konnte Möbel erkennen – Stühle, Tische, Schubladen –, die umgekippt im Schnee lagen, aus einem der Häuser gequollen wie die Innereien aus einem geschlachteten Tier. Etwas näher, an der nächsten Straßenecke, stand ein kreisrunder Kiosk, verklebt mit Postern, die zu verblasst und zu weit weg waren, als dass ich sie hätte lesen können. Ich wünschte, ich hätte Tolyas Fernglas dabei gehabt. Diese Poster und die Arbeit, die darin steckte – das Papier, die Tinte, die Druckerpresse – , erzählten ebenso wie die asphaltierte Straße und die hohen Gebäude eine Geschichte von Überfluss und ameisenhaftem Ehrgeiz.
Als ich zu den anderen zurückkam, waren sie bereits ziemlich betrunken.
Sie wollten wissen, was ich gesehen hatte, also erzählte ich ihnen von der Größe der Stadt. Ihrer Neugierde und ihrem ungezwungenem Lachen nach zu urteilen, hatte Tolya ihnen noch nicht von seinem Plan berichtet, die Gefangenen zu töten.
Als ich von den Straßen und den Möbeln und den Postern sprach, wurden sie nachdenklich, und einige äußerten den Wunsch, das alles selbst zu sehen, aber Tolya sagte, es sei schon viel zu spät, und zog eine weitere Schnapsflasche hervor.
Diese Flasche machte sie wieder gesprächig, und sie taten etwas, was die Männer im Lager nur äußerst selten taten: Sie redeten von ihrer Heimat, ihren Familien, ihrem früheren Leben.
Sie alle hatten Krieg und Unruhen erlebt, etwa die Hälfte von ihnen war früher auf die eine oder andere Art Soldaten gewesen. Das war nicht überraschend – es schien, als würde das Soldatendasein einen Mann ziemlich gut auf das Leben im Lager vorbereiten.
Ein Mann namens Osip erzählte, sein Vater sei Ingenieur gewesen und hätte ihn einmal mit nach Paris genommen. Das befeuerte unsere Fantasie – es klang wie der exotischste Ort, den man sich nur denken konnte, und so hatten wir eine Million Fragen zum Essen dort und zum Wetter und zu den Frauen. Aber Osip schien nicht viel mehr darüber zu wissen als wir oder als das, was man aus einem Buch erfahren
konnte. Er sagte ein paar Worte in einer Sprache, von der er behauptete, sie wäre Französisch, doch was uns anbelangte, hätte es alles Mögliche sein können.
Stepan sagte, er sei als Kind einmal in einem Flugzeug geflogen und hätte das Schwarze Meer gesehen. Das Wasser sei so warm wie in einer Badewanne gewesen, und dort hätte es Felder voller Weinstöcke gegeben, so weit das Auge reichte. An den Flug konnte er sich nicht mehr richtig erinnern, außer dass seine Ohren davon geschmerzt hätten.
Tolya war einst zum Priester ausgebildet worden. Er hatte in einem orthodoxen Priesterseminar im Westen des Landes studiert und war dann zu einer Gemeinde in seiner Heimatregion Burjatien geschickt worden. Er sagte, diese Gemeinde sei so lange ohne Priester gewesen, dass sie ihm praktisch alles an Kochen und Putzen abgenommen hatten. Er hatte dort wie ein Fürst gelebt und seine Zeit vor allem mit Ikonenmalerei verbracht. Während er das erzählte, griff er in seine Tasche und zog einen Lederbeutel hervor, in dem ein
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