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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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verrieten, dass dort jemand entlanggegangen war.
    Tolya sah ihnen lange nach, völlig reglos, nur sein mahlender Kiefer verriet seine Anspannung. Dann, als die Gefangenen außer Sicht waren, setzte er sein freundlichstes Gesicht auf und holte Fleischdosen, einige Flaschen Schnaps und einen Laib Brot aus seinen Taschen.

    Es waren zehn Dosen, und wir waren nur acht, also gab er eine der Konserven dem Tungusenjungen. Einige der Wachen waren gar nicht so versessen darauf, uralte Konserven zu essen, aber als sie den Rest von uns zuschlagen sahen und rochen, dass das Fleisch noch gut war, putzten sie es ebenfalls weg. Der Tungusenjunge schaffte nur einen kleinen Teil seiner Portion.
    Das Fleisch lag in einer Art Gelee und war auch nicht gerade mein Geschmack, doch dies schien nicht der Zeitpunkt, wählerisch zu sein.
    Tolya schüttete ein wenig Schnaps in den Schnee, dann füllte er unsere Blechtassen. »Auf die Zone!«, rief er, und alle leerten ihre Tassen und rochen dann an ihren Brotstücken, um den scharfen Geschmack zu mildern.
    Ich setzte meine Tasse ab, ohne daraus getrunken zu haben, was einigen von ihnen nicht passte. Denn das brachte angeblich Unglück – so, wie sich mit leeren Tassen zuzuprosten oder eine leere Flasche aufrecht stehen zu lassen oder zu essen, wenn man sich dabei im Spiegel sah, oder oder oder.
    Stepan schimpfte und verlangte, dass man noch mehr in meine Tasse füllte. Auf seinen Wangen glänzte das Dosenfett, und seine Augen leuchteten schon vom Schnaps.
    Ich hielt die Hand über meine Tasse, so dass sie
nicht mehr hineingießen konnten, trank aber, was ich hatte, um der Kameradschaft willen. Ich hatte seit Jahren keinen Alkohol mehr angerührt.
    Dem Jungen boten sie nichts davon an – Schnaps war zu wertvoll, um ihn zu verschwenden.
    Als Tolya die zweite Flasche öffnete, beschloss ich, dass ich hier nicht länger bleiben wollte, weder um mich selbst zu betrinken noch um ihnen dabei zuzusehen. Ich richtete mich auf und schlug mir den Schnee von den Hosen.
    »Wohin willst du?«, fragte Tolya.
    Ich sagte, ich wolle die Brücke überqueren und mich drüben einmal umsehen.
    Da nahm mich Tolya beiseite und sagte, ich solle dort drüben ja nicht weiter als fünfzig Meter gehen. Etwas in seiner Stimme machte mir Angst, und ich wünschte, ich hätte nie den Schnaps getrunken.
    Der Himmel ließ die ersten Anzeichen des Abends erkennen: Das Grau über uns wurde schwerer, die Schatten länger. Tolya und ich standen so weit von den anderen entfernt, dass uns niemand hören konnte.
    Er legte mir den Arm um die Schultern und drehte mich so, dass wir auf das Ende der Brücke sahen – nicht grob, aber kräftig genug, dass ich wusste, es war ihm ernst. Er deutete auf zwei Laternen beiderseits der Straße, die ins Zentrum führte. »Wenn
du weiter als zu denen gehst, kann ich dich nicht mit zurücknehmen. Hast du das kapiert?«
    In diesem Moment brachen die anderen in schallendes Gelächter aus.
    Tolya senkte seine Stimme, und seine Finger griffen fest ins Fleisch meiner Oberarme. »Die Stadt ist vergiftet«, sagte er. »Keiner verlässt die Zone.«
    Ich sagte, das wäre ja ziemlich hart für die Jungs, die wir da reingeschickt hatten.
    Er erwiderte nichts, und es schien mir, als ob er noch genug vom alten Leben in sich trug, um sich wegen alldem schuldig zu fühlen. Bestimmt gefiel ihm dieser Auftrag nicht, aber immerhin war er einer der Glücklichen, die ihr Schicksal selbst in der Hand hatten, im Gegensatz zu den Gefangenen.
    Stepan rief mit lauter Stimme, dass wir uns doch wieder zu ihnen gesellen sollten.
    Ich deutete auf die fröhliche Trinkgesellschaft und sagte zu Tolya: »Wissen sie Bescheid?«
    »Die, die schon einmal dabei waren, ja. Die anderen noch nicht.« Mein Gesicht musste wohl meine Gefühle verraten haben, denn er fügte hinzu: »Manche sind verdammt, und manche werden errettet. Sei froh, dass du zu den Erretteten gehörst.«
    Dann ließ er meinen Arm los und ging zurück zu den anderen, wo er bald eine schmutzige russische Ballade sang und überhaupt seine gute Laune zur
Schau stellte. Ihre Witze und Flüche folgten mir über die Brücke.
    Der Wind hatte den Schnee über die Straße verteilt und die eigenartigsten Muster erzeugt. Hier und da hatten die Gefangenen Spuren hinterlassen, die allerdings mehr an Hufe als an menschliche Füße erinnerten.
    Sei froh, dass du zu den Erretteten gehörst.
    Ja, man hatte mich errettet, um dies zu sehen: eine Stadt ohne Leben, auf ewig konserviert

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