Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
Wetter war zwar recht mild für die Jahreszeit, aber ohne Feuer war es doch ziemlich kalt und ungemütlich, und ich war zu hungrig zum Schlafen. Ich hielt bei uns beiden nach irgendwelchen Anzeichen einer Erkrankung Ausschau – ich wollte jetzt nicht sterben, nicht hier, nicht so kurz davor, wirklich frei zu sein.
Die Zweige, auf denen Shamsudin lag, raschelten, immer wenn er sich herumwarf.
Ich sagte, dass wir in ein oder zwei Tagen Wild jagen und das Holz verbrennen könnten. In den Flüssen nur ein Stück weit südlich von hier gab es Fische.
Für Lachs kamen wir zu spät, aber es gab Zander und Äsche. Wir konnten die Fische gefrieren lassen und dann in Streifen schneiden: stroganina . Und da waren Blätter und Moose, die wir essen konnten. Zur Not konnte ich Hungerbrot aus Kiefernrinde machen. Ich fragte Shamsudin, ob er je Pferdefleisch gegessen habe.
»Nicht bewusst«, erwiderte er.
Ich sagte, dann stehe ihm ein besonderer Leckerbissen bevor. Pferde geben eine feine Wurst, und die Steaks sind süß und zart. Die Jakuten essen die gefrorene Leber roh – wie Eiscreme.
Shamsudin sagte, dass er in Harbin einmal ein Vierzig-Gänge-Menü gegessen hätte, und mehr als zehn Gänge davon seien Ziege gewesen.
Ich fragte ihn, wo er sonst noch gewesen sei, und er ratterte eine Liste von Städten herunter und fragte dann, wie es sich mit mir verhielt.
Ich gab zu, dass Polyn meine erste richtige Stadt gewesen war, aber trotzdem sei ich im Norden ganz schön herumgekommen.
»Makepeace«, sagte er, »du bist eine Wilde.«
Er meinte es nicht unfreundlich, aber die Wahrheit war, es tat ein bisschen weh. Ich bin empfindlich, was das angeht. Ich habe grausame Dinge getan. Und ich schäme mich, so ungebildet zu sein, und für die Kluft zwischen mir und meinen Eltern.
»Zivilisation und Städte sind ein und dasselbe«, sagte Shamsudin dann. »Aber dieser Ort dort ist keine Stadt. Er ist ein Grab.«
Ich fragte, wie viel davon er gesehen habe.
»Mehr als genug«, erwiderte er.
Später in der Nacht erzählte Shamsudin, was ihm in Polyn widerfahren war.
Die Gefangenen hatten sich in Zweiergruppen aufgeteilt, gleich nachdem sie die Brücke verlassen hatten. Zuerst waren sie ziemlich aufgeregt gewesen. Sie hatten jeder ein bisschen zu essen. Sie fühlten sich frei. Die, die wie ich noch nie in einer Stadt gewesen waren, empfanden Ehrfurcht vor ihr. Für Männer wie Shamsudin jedoch hatte es etwas Trauriges, ein Gefühl der Unumkehrbarkeit – wie im Traum das Gesicht eines verstorbenen Freundes zu sehen.
Shamsudin schwieg für einen Moment. Ich wusste, dass er an Zulfugar dachte.
Einige der Gefangenen ignorierten die Karten, die sie abgezeichnet hatten, und zogen los, um nach Essen und Werkzeug zu suchen. Die Übrigen folgten derselben Route durch die Stadt, die auch ich genommen hatte.
Die Karten führten sie erst zu dem Platz mit dem großen Bronzekopf und dann weiter zu dem Industriegebiet, das Tolya Polyn 66 genannt hatte.
Die Gegend dort sah völlig anders aus. Es gab keine Zwiebelturmkirchen oder Holzhäuser, und die Gebäude waren alle größer und neuer. Aufgegebene Panzer und andere Armeefahrzeuge standen auf den Straßen. Zulfugar wurde nervös – er dachte, die Straße sei vermint.
In einer Gasse, in der er hatte pinkeln wollen, stolperte Shamsudin über einen Haufen klebriger Lumpen, Knochen und eine Fußkette – die Überreste eines früheren Besuchers.
Nach und nach gingen die jeweiligen Zweiergruppen ihrer Wege. Wie Menschen nun einmal so sind, waren einige damit zufrieden, alles einzusammeln und wegzutragen, was sie an Treibgut fanden. Shamsudin lachte, als er aufzählte, was sie alles mitgenommen hatten: alte Autobatterien, das Schwimmerventil eines Spülkastens, die Zahnräder einer Nähmaschine … Andere dagegen drangen mit grimmiger Entschlossenheit in die Ruinen vor. Sie benutzten Brecheisen, um in alte Lagerräume einzudringen, und beluden behelfsmäßige Schlitten mit ihren Funden – mehr in der Hoffnung als im Vertrauen darauf, dass Tolya sie anständig behandeln würde.
Shamsudin und Zulfugar gingen weiter in die Stadt hinein, auf der Suche nach einem der Orte, die auf der Karte verzeichnet waren. Als sie ihn schließlich fanden, stellte er sich jedoch als Spielplatz heraus.
Alte Schuhe und Dosen waren über den Platz verteilt, ein rostiges Karussell, ein stählernes Schaukelpferd und verrottete Schaukeln standen dort.
Die Nacht brach an, und Shamsudin war bereit, zurückzugehen,
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