Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
Vielleicht riskierte er eine Kugel, weil er dachte, dass das Glas ihn heilen könnte, wenn er es nur zurück schaffte.
Was dann geschah, hatte ich von meinem Platz auf dem Dach aus gesehen.
Dieses Glas mochte in der Lage sein, einen Kratzer oder auch einen Schnitt an der Hand zu heilen, aber das Loch, das sie in Zulfugar schossen, bekam es nicht wieder hin.
Trotz der knappen Lebensmittel kamen wir die nächsten Tage gut voran. Ohne die Ketten ging Shamsudin deutlich schneller, und fast mussten wir achtgeben, nicht die Wachen einzuholen.
Die ersten zwei Tage wagte ich es nicht, auf die Jagd zu gehen oder ein Feuer anzumachen – nicht wegen irgendwelcher Krankheiten oder der Strahlung, sondern weil ich fürchtete, unsere Position zu verraten. Am dritten Abend allerdings fing ich zwei Kaninchen mit der Schlinge und schichtete ein kleines Feuer auf, um sie zu braten.
An diesem Abend bekam Shamsudin Fieber. Das
Feuer war beileibe noch nicht warm, aber er klagte schon über die Hitze, und selbst im Mondlicht konnte ich sehen, dass sein Gesicht schweißverklebt war.
Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass das Glas so, wie es Schnitte heilte, ihn auch vor Krankheit schützen würde, und legte es auf sich, wann immer wir anhielten, um Schnee zu schmelzen oder das Pferd fressen zu lassen. Ich zog ihn damit auf. Ich sagte ihm, dass das keine Medizin, sondern reiner Juju sei.
Aber er beschäftigte sich weiter mit seinem Wunderglas, rollte es über die schweißnasse Stirn und die Arme rauf und runter, die ihm, wie er sagte, weh taten. Er hatte sich eine Theorie zurechtgelegt, wie es funktionierte, und schlug vor, dass ich es auch einmal versuchte.
»Nein, danke«, sagte ich. »Ich lasse es lieber mit meinen Keimen drauf ankommen, als deine zu teilen. «
Ich hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache, und ehrlich gesagt fühlte ich mich selbst nicht so besonders. Außerdem war das Pferd unruhig und aß nicht mehr.
Ich fand, es wäre wirklich eine verdrehte Form von Gerechtigkeit, wenn wir jetzt krank würden.
Später, als ich gerade in meinen Taschen nach den
Feuersteinen suchte, schloss sich meine Hand um den Erinnerungsstein. Ich zog ihn hervor, ohne groß darüber nachzudenken. Als ich ihn vor drei Tagen eingesteckt hatte, war das Ding tot gewesen. Jetzt war seine Vorderseite von grünem Feuer überzogen, und seine Lichter blinkten. Er war zum Leben erwacht.
Ich fragte mich, ob der Stein seine Energie von dem Glas bezogen hatte, oder ob das, was immer darin zerbrochen gewesen war, durch die Nähe des Glases verheilt war. Aber ich schlug mir das als ausgemachten Unsinn aus dem Kopf.
Shamsudin hatte mich beobachtet, und fragte mich, was ich da in der Hand hatte.
Ich zeigte ihm den Stein, und er sagte mir, wie ich ihn abspielen konnte.
Unter meiner Berührung leuchtete der Stein auf. Der Schirm füllte sich mit Farbe, und Bilder zogen über ihn hinweg, die die Stadt Polyn so zeigten, wie sie einmal gewesen war, die Straßen voller Leben, voller Menschen und Verkehr.
Man konnte sie zuerst nicht sehen, aber da war eine Mädchenstimme, die einem erklärte, was man auf den Bildern sah. Sie sprach Russisch, was ich nicht verstand, aber Shamsudin übersetzte für mich.
Das ist meine Schule, sagte die Stimme, hier wohne ich, das ist meine Freundin Darya – die ein kicherndes Mädchen war, das sein Gesicht mit der
Hand verdeckte –, das ist mein Vater, der unsere Sachen packt. Es wurde klar, dass die Betriebsamkeit in der Stadt von Menschen herrührte, die sich darauf vorbereiteten, zu gehen.
Ich begriff, wieso das Mädchen diese Aufzeichnungen gemacht hatte. Ich hatte mir auch oft gewünscht, ein Andenken wie dieses zu besitzen. Ein Flickenteppich, genäht aus Stücken der Vergangenheit. Es hätte bei ihr sein sollen, dort, wohin sie gegangen war. Es war ein Jammer, dass sie es in der Schublade vergessen hatte.
Dann sah man sie auf ihrem Bett. Das Bild wurde wacklig, und man konnte im Hintergrund jemand lachen hören. »Lyudi budushchevo«, sagte sie oder etwas, das so ähnlich klang.
Shamsudin setzte sich auf und sagte, sie hätte den Stein ganz und gar nicht vergessen – sie hätte vorgehabt, ihn dazulassen.
Sie wollte uns eine Nachricht hinterlassen.
»Menschen der Zukunft. Wer immer das hier sieht. Ich wurde in der Stadt Polyn in Russland geboren. Ich bin achtzehn Jahre alt. So habe ich gelebt. Das ist, wer ich war.«
So habe ich gelebt. Das ist, wer ich war …
Als Shamsudin diese Worte nachsprach,
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