Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
einer Luke unter dem Dach.
Es war eine große, schwere Stahlluke mit Querbolzen auf der Innenseite. Er löste den Bolzen, aber altes Laub hatte sich in den Scharnieren festgesetzt, so dass sich die Luke nur einen Spalt breit öffnen ließ. Shamsudin sah das Sonnenlicht und roch die frische Luft. Wütend schlug er mit den Fäusten auf die Luke ein – und plötzlich ging sie auf, und eines der Gläser entglitt ihm.
Shamsudin schloss die Augen. Er rechnete mit Feuer oder gar einer Explosion, aber das Glas fiel fünf bis zehn Meter und schlug auf dem Beton auf, als wäre es aus Eisen gemacht. Er ließ es dort unten in seinem blauen Lichtkreis liegen, wie eine Laterne am Grund eines Brunnens.
Shamsudin war so lange in diesem Gebäude gewesen, dass er dachte, Zulfugar hätte die Hoffnung längst aufgegeben, ihn lebend wiederzusehen, aber nicht nur wartete sein Freund auf ihn, wo sie getrennt worden waren und er sich in der Zwischenzeit um seine Handverletzung gekümmert hatte, er hatte auch Shamsudins Teil der Essensration aufgehoben.
Während Shamsudin aß und erzählte, wo er gewesen war, zog Zulfugar seine zerlumpten Fäustlinge aus, um das leuchtende Glas zu berühren.
Schließlich wurde es Zeit, zur Brücke zurückzugehen. Zulfugar stand auf und hielt Shamsudin die Hand hin, um ihm hochzuhelfen, doch Shamsudin sah ihn nur überrascht an. Dann griff er nach der Hand seines Freundes und betrachtete sie sich. Die Schnittwunde war völlig verheilt.
Zulfugar packte Shamsudin fest am Arm und flüsterte: »Gott ist groß.«
Ich fragte Shamsudin, ob er sich wirklich sicher sei, dass es das Glas war, das das getan hatte, und er schwor hoch und heilig, dass es sich so verhielt, und
sagte, dass es auch bei ihm ein paar kleinere Schrammen geheilt hätte.
Nach einer Weile fragte Zulfugar Shamsudin, ob er den Weg zurück in den Raum finden würde, wo die Gläser verwahrt wurden. Shamsudin sagte, mit einem Seil und einer Laterne wäre das wohl recht leicht zu bewerkstelligen, obwohl er in Wahrheit Angst hatte, dort noch einmal hinzugehen.
Zulfugar studierte seine Zeichnungen und fand eine Nummer, die zu der auf dem Glas passte. Seine Freude wich Nervosität. Es war, wie wenn ein unerfahrener Kartenspieler ein gutes Blatt auf die Hand bekommt, und der Gedanke daran, den Pot einzusacken, treibt ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Zulfugar heckte einen Plan aus, das Glas gegen ihre Freiheit einzutauschen.
Wenn sie beide zurück zur Brücke gingen, sagte er, würden die Wachen nicht zögern, ihnen das Glas mit Gewalt abzunehmen. Stattdessen solle nur einer von ihnen zurück, während der andere in der Zone blieb und das Glas bewachte.
Zulfugar schlug vor, dass Shamsudin mit leeren Händen zurückgehen und Tolya ganz genau sagen sollte, worüber er gestolpert war. Im Gegenzug dafür, die Wachen dorthin zu bringen, sollte er für eine Woche Essensration und ein Pferd verlangen.
Shamsudin hatte Bedenken. Er war von Natur aus
eher zaghaft, und sein erster Impuls war, das Glas einfach auszuhändigen und auf die guten Absichten der Wachen zu vertrauen. Aber Zulfugar wollte nichts davon wissen. Er ging im Schnee auf und ab und stockte seine Forderungen auf wie die Frau des Fischers im Märchen: für zwei Wochen Essen, für einen Monat, ein Pferd für jeden, ein Gewehr … Und dann, sozusagen in letzter Minute, beschloss er, dass Shamsudin zurückbleiben solle. Vielleicht traute er seinem Freund nicht. Wahrscheinlicher aber war, dass er sich für den gerisseneren Händler hielt.
Das Problem mit Zulfugars Plan war, dass er den Wachen zu viel Intelligenz zutraute. Ich glaube nicht, dass irgendjemand außer Apofagato wusste, was genau wir in der Zone finden würden. Man konnte Bilder abmalen, bis man einen Krampf in der Hand kriegte, und so viele Nummern notieren, wie man wollte – doch bevor man dieses Glas mit dem pulsierenden Licht darin nicht sah, glaubte man nicht, dass so etwas existierte.
Ich konnte es direkt vor mir sehen, und mir fiel es trotzdem schwer, daran zu glauben.
Außerdem hatte Tolyas Geschichte von der Zone die Wachen in Panik versetzt. Es war klar, dass sie ihren Auftrag nun so schnell wie möglich erledigen wollten.
Während Zulfugar mit den anderen Gefangenen
auf der Brücke wartete, musste ihm bewusst geworden sein, dass er sich verrechnet hatte. Anstatt auf die andere Seite gelassen zu werden, wurden sie zusammengepfercht wie Schweine, die auf den Bolzenschuss warten. Und so versuchte er, zu fliehen.
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