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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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meine zarten Fühler zur Sonne hin ausstreckten.
    So wenig von meinem Leben war das eines Menschen – jedenfalls war es kein Leben, das das Mädchen, das einmal hier gewohnt hatte, verstanden hätte. Ich dachte an Ping und daran, was gewesen wäre,
wenn ihr Baby überlebt hätte. Vielleicht hätte ich dem Kind ein Zimmer wie dieses hier einrichten und mich im Lauf der Jahre verlieren können – im Wissen, dass ich mein Beet bestellt und mein Haus gerichtet und die Menschen geliebt hatte, die ich hatte lieben sollen. Der Bronzekopf auf dem Platz dort unten kündete von großen Zielen, aber ich hielt jede Wette, dass was die meisten Menschen wirklich wollten, genau das hier war.
    In der Schublade, in der das Tagebuch gelegen hatte, war auch eine Dose »Cold Cream«, die Creme im Inneren ganz steif und wächsern. Ich schmierte mir einen Finger davon auf meine sonnenverbrannten Lippen. Der Geschmack betäubte meine Zunge wie Seife.
    Dann legte ich die Dose und das Tagebuch wieder zurück und schloss die Schublade. Sie klemmte jedoch, und als ich an ihr rüttelte, hörte ich etwas dahinter klappern. Ich zog es hervor: ein perfektes Oval, flach und schwer. Wie ein Truthahnei lag es in meiner Hand, und es fühlte sich so kühl an, dass ich es zuerst für einen Briefbeschwerer hielt – bis ich die eingeätzten Muster auf der Oberseite entdeckte.
    Es war ein Erinnerungsstein.
     
    Etwa um drei Uhr morgens begann es wieder zu schneien. Wie Federn aus einem offenen Kissen fiel
es aus dem Himmel – große Warmwetterflocken. Es kann jedoch nicht das Geräusch des Schnees gewesen sein, das mich aufweckte, denn da war nichts zu hören. Vielleicht hatte sich das Licht im Raum geändert – wie es da vor dem Schlafzimmerfenster herabwirbelte, schien es das Sternenlicht zu verdoppeln.
    Ich erwachte auf dem Bett des Mädchens, sah zu, wie der Schnee fiel, und spürte eine Art Frieden in mir. Und eine merkwürdige Art Freude – darüber, dass diese schuppige alte Schlange von Welt immer noch so schöne Dinge bereithielt.
    Ich musste wieder eingedöst sein, denn das Nächste, was ich hörte, war das Wiehern der Stute, und schon war ich halb die Treppe runter und rief – den Hahn meiner Waffe gespannt und meine Augen noch kaum geöffnet –, dass wer immer da unten ist, sich schleunigst verziehen solle.
    Im Treppenhaus lag überall Schnee, und jemand hatte versucht, dem Pferd das Zaumzeug abzunehmen, aber die Eindringlinge waren offenbar geflohen, als sie mein Geschrei gehört hatten.
    Ich schwang mich in den Sattel und folgte ihnen.
    Es stellte sich bald heraus, dass es nur einer war. Ich folgte den Spuren, die er mit seinen Ketten im Schnee hinterlassen hatte. Ich habe zu meiner Zeit eine Menge Männer gejagt, aber für diesen hier musste ich mir nicht viel Mühe geben. Das Wetter
und die kümmerlichen Essensrationen hatten ihn völlig erschöpft. Sich in eine schmale Gasse zu kauern und zu beten, dass ich ihn im Dunkeln mit etwas anderem verwechselte, schien das Einzige, zu dem er noch in der Lage war.
    Er wartete und wartete in der Hoffnung, dass ich weiterziehen würde. Angesichts des Giftes überall und der vertrockneten Leiche in der Wohnung wollte ich ihm nicht zu nahe kommen, aber ich hatte auch nicht die Absicht, ihn laufen zu lassen, damit er noch mehr Ärger machen konnte.
    Nach einer lächerlich langen Zeit, wie mir schien, rief ich ihm zu, dass ich ihn eben als Fremden erschießen würde, wenn er sein Gesicht nicht endlich zeigte, und deshalb auch nicht schlechter schlafen würde, und ich öffnete und schloss den Verschluss meiner Waffe mit einem Schnappen, so dass an meiner Absicht keine Zweifel blieben.
    Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der Mann rutschte auf den Knien aus dem Dunkel auf mich zu und bat mich dabei inständig, nicht zu schießen. Dann, als er zu mir aufsah, erhellte die erste Morgenröte hinter mir am Himmel sein Gesicht.
    Es war Shamsudin.
    Er blinzelte zu mir auf und sagte meinen Namen, als ob es eine Frage wäre. Seine Stimme war heiser und belegt vor Durst.

    Ich sagte, er solle bleiben, wo er war, und ging einen meiner Wasserkübel holen. Als ich ihm den Kübel gebracht hatte, umklammerte er ihn mit den Armen und steckte seinen Kopf mehr oder weniger hinein. Zwischen den Schlucken hielt er immer wieder mit geschlossenen Augen inne und keuchte vor Erleichterung und Müdigkeit. Das Wasser tropfte ihm vom Bart. Als er mir den Kübel schließlich wieder zurückgeben wollte, sagte ich ihm, er

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