Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
aber Zulfugar hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass die Karte falsch war. Als Soldat hatte er manchmal mit gefälschten Karten gearbeitet, auf denen man die wichtigen Orte versteckt hatte, um Leichtgläubige in die Irre zu führen, und er war der Ansicht, dass ihr eigentliches Ziel etwa zweihundert Meter vor ihnen lag.
Es erforderte ein wenig Klettern, um über die Außenmauer des Gebäudes zu gelangen, und Zulfugar schnitt sich dabei an der Hand. Er verband sie mit einem Stofftuch, dann machten sie eine Räuberleiter, und Zulfugar hob Shamsudin durch ein zerbrochenes Fenster ins Innere.
Und Shamsudin fiel.
Auf der anderen Seite war es viel tiefer, als er erwartet hatte. Er versuchte, den Aufprall abzufedern, trotzdem schlug sein Kopf auf den nackten Beton. Eine Weile war er bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, sah er auf und musste feststellen, dass das Fenster zu hoch lag, um wieder hinauszuklettern. Er fühlte etwas Warmes auf seine Hand tropfen. Er hatte sich beim Sturz die Nase gebrochen.
Bei dem Gedanken, alleine dort drinnen zu sterben,
ergriff ihn Panik. Er schrie sich die Kehle wund nach Zulfugar. Keine Antwort. Das Fundament war tief, und es war pechschwarz im Inneren. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten und der Schmerz an seinem Kopf abklang. Schließlich stand er auf und tastete sich an den Wänden entlang. Es kam ihm so vor, als ob der Boden in einer Richtung leicht anstieg, also folgte er ihr in der Hoffnung, so wieder hinauszukommen.
Die Anlage war riesig. Manchmal meinte Shamsudin den Verstand zu verlieren, dann wieder dachte er, er sei gestorben und wandle durch die Flure des Jenseits. Nach einer Wanderung, die ihm wie Stunden vorkam fühlte er zerbrochenes Glas unter seinen Füßen und sah zu dem Fenster auf, durch das er gestürzt war. Er war im Kreis gelaufen war.
Da gab er die Hoffnung auf, diesem Labyrinth je wieder zu entkommen. Er verfluchte Gott und warf sich gegen die Wand, um sich den Schädel einzuschlagen – aber die Dunkelheit vor ihm gab nach. Er war durch einen Durchgang in eine Art Kammer gestolpert, und dort bemerkte er ein blassblaues Licht, das unter einer Metalltür durchschien.
Zu seiner Überraschung schwang die Tür auf, als er gegen sie drückte. Sie führte in einen großen Lagerraum, der von hohen Metallregalen gesäumt war.
Das blaue Licht kam nicht von einem Fenster, sondern
von einem Regal voll blauer Gläser, in denen es knisterte und glühte.
Shamsudin war Wissenschaftler, aber etwas Derartiges hatte er noch nie gesehen. Er wollte nach den Zeichnungen greifen, die er im Lager angefertigt hatte, musste aber feststellen, dass er sie und die Karte irgendwo verloren hatte.
Wie er mir das erzählte, hörte ich die Zweige unter ihm rascheln. Er suchte offenbar nach etwas in seiner Jacke. Ich legte eine Hand auf den Schaft meines Karabiners und musste dabei wohl eingeatmet haben, denn er sah zu mir hinüber. Er war etliche Meter von mir entfernt, aber ich konnte sein Gesicht deutlich erkennen: die tiefen Schatten in seinen Augenhöhlen, und das Glitzern von Gold in seinen Zähnen, wie von Kerzenlicht erhellt.
Was er aus seiner Jacke gezogen hatte, war eines jener blau leuchtenden Gläser. Ich hatte sie mir wie eine Art Glühbirne vorgestellt, aber das Licht, das es enthielt, war weder einheitlich noch beständig. Es bewegte sich. Schimmerte. Es sah so aus, als hätte jemand die Himmelslichter in einem Einmachglas gefangen.
Shamsudin stellte das Glas zwischen uns in den Schnee.
Je näher man ihm kam, desto seltsamer war es. Das Licht hatte dieselbe Macht, den Blick einzufangen,
wie Feuer, so dass man die kleinsten Details bemerkte. Es hatte Struktur und Tiefe – wie Flammen, wie die Türme von Polyn 66 aus der Ferne –, aber es besaß auch Eigenschaften von Wasser: Es bewegte sich, faltete sich, sandte kleine blaue Triebe aus, rollte sich wieder zusammen, als ob es neue Kraft sammelte. Und die ganze Zeit konnte ich ein schwaches Zischen aus dem Glas hören, wie den Atem eines lebenden Wesens.
War es das, was Tolya »Danielsfeuer« genannt hatte?
Shamsudin hatte zwei der Gläser aus dem Regal genommen und sie benutzt, um den Weg nach draußen zu finden. Das Licht war zu schwach und diffus, um weit damit zu sehen, aber er konnte sich nun denken, dass der Raum, in dem er sich befand, kreisförmig war, und nach etwa einer Stunde Herumtasten fand er eine Leiter, die an eine der Innenwände geschraubt war. Sie führte zu
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