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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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ertrage es nicht, wie weit es mit ihm gekommen sei.
    Ich erwiderte, er solle sich nichts daraus machen, und dass vermeintlich bessere Menschen sich schon sehr viel schlechter gehalten hätten.
     
    Bevor wir aufbrachen, ging ich noch einmal aufs Dach, um den Erinnerungsstein zu holen. Er lag warm in der Hand, blieb aber leblos. Ich drückte jeden Knopf und schüttelte den Stein, doch das Ding funktionierte ganz offensichtlich nicht mehr.
    Als ich schließlich den Arm hob, um den Stein hinunterzuwerfen, fing sein Schirm das Sonnenlicht ein und reflektierte es in meine Augen. Es war so hell, dass ich zusammenzuckte. Ich hielt den Stein in der Hand und drehte ihn im Licht. Das Glas war so rein, dass es wie ein Spiegel wirkte.
    Ich hatte mein Gesicht so viele Jahre nicht mehr im Spiegel betrachtet, und es war kaum zu glauben: Es sah besser aus, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Die Jahre schienen den Zorn aus den Narben genommen zu haben. Ich war um einiges älter, aber mein Gesicht sah aus, als hätte es seinen Frieden mit sich gemacht. Noch lange nicht hübsch, aber auch nicht mehr hässlich. Oder vielleicht hatte ich es mir auch nur schlimmer vorgestellt, als es war.
    Ich beschloss, dem Stein eine Gnadenfrist zu geben. Ich würde ihn an einer Schnur über meine Aussaat hängen, um die Krähen fernzuhalten. Mir gefiel
dieser Gedanke – dass er ein zweites Leben als Vogelscheuche führen würde. Also steckte ich ihn in meine Jackentasche zu Feuerstein und Zunder.
    Dann, nach etwas Suchen, fand ich einen Hammer, mit dem Shamsudin seine Ketten loswerden konnte. Er bearbeitete sie eine Weile und schaffte es schließlich, sie zu knacken, die Fesseln aber blieben ihm.
     
    Um die Mittagszeit verließen wir die Zone. Etwa vierhundert Meter Schneematsch lagen noch zwischen uns und der Brücke. Ich führte das Pferd am Zügel, hielt mich aber zehn Meter vor Shamsudin, und immer wenn das Knirschen seiner Schritte zu laut wurde, ging ich ein wenig schneller.
    Kaum hatte ich die Brücke betreten, fühlte sich mein Körper schon ganz anders an. Mir wurde klar, dass ich in der Stadt die ganze Zeit über flach geatmet hatte.
    Die erste Leiche lag einen oder zwei Meter hinter der Straßensperre. Es war Zulfugar. Die Patrone, die sie benutzt hatten, musste eine weiche Spitze gehabt haben, denn sie hatte sein Inneres wie einen Pfauenschwanz über den Schnee gebreitet.
    Ich hielt mich nicht länger bei ihm auf, sondern eilte weiter zum Lagerplatz am anderen Ende der Brücke. Ich hoffte, dass Tolya mit einem Pferd weniger
für den Rückweg ein paar Vorräte hatte dalassen müssen, aber alles, was ich fand, waren leere Dosen und Flaschen und die Überreste des Feuers. Ich stocherte mit dem Fuß in der Asche herum, nur für den Fall, dass ihnen etwas Essen heruntergefallen war.
    Shamsudin hatte es offenbar nicht eilig, über die Brücke zu kommen. Ich sah ihn neben Zulfugar knien, den Kopf gesenkt, und ein Gebet für den Toten sprechen, und ich rief ihm zu, dass er der Leiche nicht zu nahe kommen solle.
    Mit schwerer, stockender Stimme rief er eine Verwünschung zurück.
    Ich zog meine Waffe und rannte zu ihm, wobei ich mich bemühte, nicht im Matsch auszurutschen, und dann warnte ich ihn davor, den Leichnam zu berühren, andernfalls würde ich ihn erschießen. Ich atmete schwer, aber der Lauf der Waffe war ruhig auf seine Stirn gerichtet.
    Seine Augen blitzten. Er reckte mir das Kinn entgegen, wie um zu sagen, dass er so nahe herangehen würde, wie er wolle. Dann wandte er sich von mir ab, packte Zulfugar unter den Armen und zog den Leichnam hoch.
    Er stellte sich dabei ziemlich ungeschickt an und schwankte, als er schließlich auf die Beine kam.
    Ich weiß nicht, ob er glaubte, dass ich schießen würde. Vermutlich war es ihm einfach egal.

    Er begrub Zulfugar unten am Fluss. Ich sah ihm von der Brücke aus zu, wie er mit den Händen und einigen flachen Steinen ein Loch aushob. Es war etwa einen halben Meter tief, und er brauchte eine Weile, um den Körper mit Erde zu bedecken.
     
    Langsam zogen wir nach Süden, während der Himmel erst blau und dann golden wurde. Bis Sonnenuntergang sprachen wir kein Wort miteinander.
    Schließlich machten wir Halt, und ich sammelte Äste für ein Nachtlager. Shamsudin bot seine Hilfe an, aber ich sagte, er solle gefälligst Abstand wahren. An seiner Jacke klebte noch immer Zulfugars Blut. Er hatte seinen Freund begraben und sich selbst so gut wie mit – aber mich würde er nicht begraben.
    Das

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