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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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könne ihn behalten.
    Ich war froh, ihn am Leben zu sehen, aber ich verspürte kein Verlangen, ihn viel näher an mich heranzulassen. Selbst wenn es Charlo oder Pa gewesen wäre – ich hätte mich immer noch windwärts von ihm und zehn Meter Abstand gehalten. Ich glaubte keine Sekunde, dass die Wachen diese Männer wegen nichts getötet hatten oder sich die ganze Mühe mit den Anzügen und Masken aus Spaß machten. Tolya wusste mehr über die Zone als ich – und er vertraute nicht einfach auf sein Glück, wenn es um seine Gesundheit ging.
    Nach einer Weile fragte mich Shamsudin nach den anderen.
    Ich sagte, dass die Wachen auf der anderen Seite des Flusses warteten und, soweit ich wusste, alle Gefangenen außer ihm tot waren.
    Das schien ihn weniger zu überraschen, als ich gedacht
hätte. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, und nach einer Weile bemerkte ich, dass er eingeschlafen war. Sein Gesicht sah erschreckend alt aus, die Haut hing in sackartigen Falten herab, und er hatte den Schlaf ganz bestimmt nötig, aber es war so kalt, dass er nie wieder zu sich kommen würde, wenn er da weiterschlief. Also pfiff ich ihn aus seinem Schlummer und bedeutete ihm, mit mir zu kommen.
    Auf wackligen Beinen folgte er mir ins Treppenhaus des großen Gebäudes, wo ich ihm einen geeigneten Platz zum Hinlegen suchte und ihn dann mit einem Haufen Bettwäsche aus der oberen Wohnung bedeckte.
     
    Als es dämmerte, ging ich aufs Dach, um die Sonne über der Stadt aufgehen zu sehen. In den fernen Fenstern blitzte das Glas auf – golden zumeist, manchmal aber auch grünlich-blau wie geschnittenes Eis.
    Ich hatte den Erinnerungsstein mitgenommen und legte ihn jetzt auf das Dach, damit er ein paar Stunden Sonnenlicht tanken und zum Leben erwachen konnte. Bei Tageslicht sah er sogar noch hübscher aus, hell und glänzend wie eine Messerklinge. Auf der Vorderseite stand winzig klein etwas auf Russisch, und eine Reihe von Knöpfen waren mit mir unverständlichen
Symbolen versehen. Bei der leichtesten Berührung reagierten sie mit einem sanften Klicken. Auf der Rückseite standen die einzigen Worte, die ich lesen konnte: Made in China .
     
    Eine gute Stunde nach Sonnenaufgang brachen die Wachen ihr Lager auf der Brücke ab und machten sich auf den Heimweg. Langsam ritten sie am Ostufer des Flusses entlang. Ich lag auf dem Bauch und beobachtete sie mit dem Fernglas. Sie hatten gerade genug Pferde für die Rückreise. Die Schlitten waren mit den Fundstücken aus der Zone beladen.
    Die toten Gefangenen hatten sie einfach liegen lassen. Der eine, der auf seinen Knien gestorben war, war in der Nacht umgekippt. Die anderen lagen in einem Haufen unter dem Neuschnee – zu weit weg für mich, sie zu zählen, selbst mit dem Fernglas.
    Schließlich ging ich hinunter und gab etwas Trockenfutter in einen Kissenbezug, damit Shamsudin etwas zu essen hatte, wenn er aufwachte. Es war mühselig, ihn in dieser halbherzigen Quarantäne zu halten, aber was hätte ich sonst tun sollen? Ich wusste nicht genau, ob er eine Gefahr für mich darstellte, also war es das Beste, ihn nicht anzufassen – oder irgendetwas, das er berührte oder aß – und nicht dieselbe Luft zu atmen.
    Am frühen Vormittag dann wachte er auf, und ich
sah von oben auf der Treppe zu, wie er auf seinem kargen Frühstück herumkaute. Der Schlaf und das Wasser schienen ihm gutgetan zu haben – er sah nicht mehr ganz so aus wie ein Toter und hatte auch wieder etwas von seiner alten Haltung angenommen.
    Ich sagte ihm, dass die Wachen fort waren und es uns freistünde, zu gehen.
    »Gehen wohin?«, fragte er.
    Ich zuckte mit den Achseln und sagte, er könne gehen, wohin er wolle – ich für meinen Teil würde nach Hause gehen.
    Er warf mir einen misstrauischen Blick zu. Die Sache im Wald stand immer noch zwischen uns, also sagte ich, ich hätte nicht vor, ihm heimzuzahlen, dass er daran gedacht hatte, mich umzubringen. Ich hätte vielleicht dasselbe getan. Soweit es mich anging, könnten wir die Vergangenheit ruhen lassen.
    Nachdem ich das gesagt hatte, kam er näher und wollte es mit einem Handschlag besiegeln.
    Ich bat ihn, das nicht falsch aufzufassen, und sagte, dass ich seine Hand im Geiste ergeife, es aber Krankheiten und Gifte in der Zone gäbe und jeder von uns sie sich eingefangen haben könnte. Ich sagte, solange wir nicht sicher waren, dass wir beide gesund sind, sollten wir einen großen Bogen umeinander machen.
    Da liefen Tränen über seine Wangen, und er sagte, er

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