Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
spürte ich, wie mich ein Frösteln durchlief. Ich dachte an die Stoffbänder am Rande des Highways. Und an die
Kratzer an den Zellwänden von Buktygachak. Und an den Bronzekopf, der den leeren Platz bewachte.
Man erwartet nie, am Ende von etwas dabei zu sein .
Das hatte Reverend Boathwaite gesagt. Aber er war so überheblich wie sein Bruder. Das Ende ist dort, wohin es einen eben verschlägt, und es verschlägt einen immer ans Ende von etwas . Was also ist es, das einen dazu treibt, bei minus sechzig Grad zum Stall rauszuschlurfen, mit Fingern steif vor Kälte den Sattel festzumachen oder im Sommer rauszureiten, wenn man vor lauter Staub kaum atmen kann?
Es gibt Worte, die eigentlich ganz harmlos klingen, aber einen, wenn man über sie nachdenkt, eine Angst einjagen, die größer als jede andere Angst ist.
Es hat letztlich keinen Sinn, Angst davor zu haben, weil man nicht dabei ist, wenn es geschieht. Fürchte Hunger oder Kälte oder Schmerzen – aber das? Und doch ist dies die Angst, die an mir nagt, und als ich das Mädchen diese Worte sagen hörte, stieß ich im Dunkeln mit ihr zusammen.
Ich fürchte mich vor dem Verschwinden .
Boathwaite mochte sagen, was er wollte – ein vernünftiger Mensch weiß, dass er auf das Ende von etwas zusteuert. Und der Gedanke, dass es danach weitergeht, dass jemand etwas Nettes bei der Beerdigung sagt oder sich auch nur irgendwer mit einem Tropfen
Blut in den Adern irgendwo an einen erinnert – das gibt dem ganzen Rest ein bisschen Sinn. Ein vernünftiger Mensch weiß, dass es so kommen wird.
Das Mädchen aus Polyn hatte ihre Botschaft dem Meer der Zeit überantwortet, damit sie im Geiste dessen, der sie fand, wieder leben konnte. Vielleicht wusste sie das nicht, aber genau so war es.
Jeder erwartet, am Ende von etwas dabei zu sein. Was niemand erwartet, ist, am Ende von allem dabei zu sein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, lagen etwa sechs Zentimeter Schnee auf mir. Ich hatte leichtes Fieber, Shamsudin jedoch war schwerkrank. Seine Haut war grau, und seine Lunge rasselte. Er sagte, er würde schon wieder werden, und bestand darauf, dass wir weiterzogen, aber er kam gerade zehn Meter weit, da musste er sich schon wieder hinlegen.
Er sagte, ich solle nicht näher kommen, doch ich hatte die Nase voll von alldem. Ich half ihm auf, legte ihn wieder auf sein Lager und zog ihm alle Decken über, die wir hatten. Dann machte ich aus den Kaninchenresten Suppe und gab sie ihm, Löffel für Löffel, während er zitternd dalag.
Zwischen den Schweißausbrüchen schlief er immer wieder ein, und ich hielt seinen Kopf in meinem Schoß. Er fühlte sich an wie ein Baby. Ich dachte an
Ping, und während ich mir ihr Gesicht vorstellte, sagte ich Shamsudin, dass ich ihn liebe.
Er murmelte etwas im Schlaf. Die Röte des Fiebers in seinem Gesicht ließ ihn fast jugendlich aussehen.
Nach etwa einer Stunde wachte er auf und fragte mich, ob ich mir Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tod mache.
Ich sagte nein, aber wenn irgendjemand das verdiente, dann er.
»Ich war einmal in Andalusien«, sagte er. »Ich denke, das Paradies wird nach Orangenblüten riechen.«
Ich sagte, dass das auch meine Hoffnung sei, wenn es denn so etwas wie ein Paradies gibt, und da spürte ich, wie er meine Hand drückte, ganz fest, und wie mir die Hitze durch den Körper schoss, und dann umarmten wir einander in Einsamkeit und Todesangst.
Bald wurde das Fieber wieder schlimmer, und Shamsudin fantasierte und verlangte, ich solle ihn erschießen. In klaren Momenten sprach er von seiner Kindheit. Er sagte, seine Mutter sei immer sehr stolz auf ihn gewesen. Genau wie das Mädchen aus Polyn wollte er, dass man seine Existenz bezeugte.
Als die Sonne herauskam, öffnete ich seine Jacke, damit er etwas frische Luft bekam, aber es dauerte nicht lange, da brachen Wunden auf seinem Gesicht
auf und die Infektion breitete sich auf seine Lungen aus, so dass er im Sitzen schlafen musste.
Das Pferd war ebenfalls krank, aber ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich kochte ein paar Kräuter in einem Eimer auf, damit Shamsudin sie einatmen konnte. Das schien ihm zu helfen, er schlief etwas ruhiger in dieser Nacht.
Beim ersten Licht des Tages stand ich auf, um noch mehr Pflanzen zu sammeln. Dabei erhaschte ich einen Blick auf einen Hirsch. Ich hatte mein Gewehr dabei und dachte mir, zur Hölle damit – entweder wird uns die Krankheit kriegen oder Tolyas Männer werden uns kriegen, aber zumindest sterben wir
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