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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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so nicht mit leerem Magen.
    Ich war selbst etwas fiebrig und brauchte drei Schüsse, um das Tier zu erlegen, und eine halbe Stunde, um es zurück zu unserem Lager zu schleppen. Es war eine junge Hirschkuh, die offenbar von ihrer Herde getrennt worden war.
    Ich rief Shamsudin zu, dass wir frisches Fleisch hätten. Mir kam der Gedanke, dass es ihm guttäte, die Leber zu essen, also schnitt ich die zuerst heraus. Als ich soweit war, sie zu kochen, hörte ich, dass Shamsudins Atem wieder rasselte.
    Ich ging zu ihm, und sein Blick war glasig, und er packte meinen Arm, während er angestrengt atmete und sich quälte wie am Ende eines Wettlaufs. Seine
Zunge war trocken und schwammig, so viel Wasser ich ihm auch einzuflößen versuchte. Wer weiß, vielleicht wäre er friedlicher gestorben, wenn ich das Gewehr genommen hätte – aber das brachte ich nicht über mich.
    Shamsudin starb um die Mittagszeit. Kurz darauf starb auch das Pferd. Ich aber lebte. Das ist wohl meine Art von Glück.

VIERTER TEIL

1
    SO WIE DIE DINGE STANDEN, musste ich also zu Fuß weiter. Ich begrub Shamsudin, dann wanderte ich südostwärts, durch die Taiga, auf der Suche nach dem Beginn des Highways, der mich nach Hause bringen würde.
    Es war die denkbar schlechteste Jahreszeit, um zu reisen. Schmelzwasser machte selbst die kleineren Flüsse nahezu unpassierbar. Und wenn man nass wurde und die Temperaturen dann fielen, hatte man am Ende einen Eispanzer über der Hose.
    Ich war immer der zähe Typ gewesen, vier Stunden Schlaf ließen mich nach einem Tag Arbeit wieder zu mir finden. Aber jetzt hatte ich Schmerzen und bekam kaum noch Luft. Ich hielt erst jede Stunde, dann jede halbe Stunde, dann alle fünfzehn Minuten. Schließlich ging ich immer hundert Meter und ruhte mich dann fünf Minuten aus. Ich trug meine Sachen auf einem Birkenholzgestell, das mir in die Arme schnitt.
    Schon bald war ich auch zu schwach zum Jagen.
Der Boden war durchgeweicht, also hackte ich mit letzter Kraft die Äste von einer Lärche und breitete sie zu einem Lager aus. Dann ließ ich mich darauf nieder und wartete auf den Tod.
    Ich muss etliche Tage dort gelegen haben, während sich die Krankheit durch mich fraß. Tag und Nacht wirbelten über den Himmel.
    Dann, am dritten – vielleicht auch vierten – Morgen, stand ich auf und trank einen Liter Wasser aus dem Fluss.
    Jahre später hörte ich, dass die Seuche in Polyn künstlich erzeugt worden sei, maßgeschneidert, um Männer zu töten, Frauen aber zu verschonen. Und das aus ganz praktischen Gründen: um die Soldaten zu töten und die Frauen in Erwartung der siegreichen Armee zu Hause Kinder gebären zu lassen. Es klingt verrückt, aber nicht verrückter als viele andere Dinge, von denen ich weiß, dass sie stimmen.
    Als ich wieder kräftig genug zum Gehen war, schulterte ich meine Sachen und stolperte weiter. Ich pflückte junge Farne und aß sie. Auf einigen von ihnen saßen Raupen, und ich verdrückte auch die, so hungrig war ich. Ich dachte gerade darüber nach, meine Patronen zu zählen – ob ich ein paar für die Jagd übrig hatte –, als ich einen süßlichen Geruch wahrnahm.
    Etwa zweihundert Meter weiter dann entdeckte ich
den Leichenhaufen. Sie waren aufgestapelt wie Holzstämme. Einige waren noch halb bekleidet, aber die meisten hatte man ausgezogen, und ihre Glieder schimmerten wächsern im Sonnenlicht. Auf einmal schmeckte die Raupe bitter in meinem Mund.
    Man hatte sie mit langen Messern umgebracht, manche waren nur noch Rümpfe. Tolyas Kopf lag obenauf, mit hängenden Mundwinkeln, und blinzelte unter schlaffen Lidern hervor. Ameisen machten sich geschäftig über die Münder und Augen her.
    Ich schätzte, dass sie seit zwei oder drei Tagen tot waren. Die Spuren der Angreifer waren mit dem Schnee weggeschmolzen, aber hier und da hatten sie etwas fallen gelassen – einen Stiefel, eine Satteltasche, einen Kochtopf –, was mich vermuten ließ, dass der Kampf im Dunkeln stattgefunden hatte. Die Wachen waren gut bewaffnet gewesen, und es hatte wohl eine große Zahl Männer gebraucht, sie zu überwältigen. Vielleicht hatten die Erleichterung, die Zone überlebt zu haben, und ihre Feuerkraft sie aber auch unvorsichtig gemacht. Wenn sich ihnen jemand heimlich genähert, sich bei Nacht angeschlichen hatte, waren sie vielleicht zu betrunken oder zu müde gewesen, um sich zu verteidigen.
    Ich schwärzte mein Gesicht mit nasser Erde, lud das Gewehr mit den restlichen Patronen und ging bis Einbruch der Dunkelheit

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