Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
sich des lebendigen Atems um ihn herum bewusst geworden. Dann sei er durch eine letzte Wolkenbank emporgestiegen und auf einer Lichtung gelandet.
Dort folgte er einem Pfad entlang einer Bergflanke, vorbei an einem Skelett, von dem er sagte, dass es das seines Vaters gewesen sei, auf ein erleuchtetes Zelt zu. In dem Zelt lag der Körper der kranken Frau in Form eines Steinhaufens, aus dem eine Rebe wuchs. Der Schamane riss die einzelnen Ranken ab, und je näher er dem Zentrum der Pflanze kam, desto dicker wurden sie. In der Mitte schließlich waren sie mehrere Zentimeter dick und pelzig und heiß wie der Schaft eines jungen Geweihs. Und im Herz der Pflanze war ein verschrumpeltes Etwas: das totgeborene Kind, dessen Seele auf dem Weg verloren gegangen war …
Ich weiß nicht, ob er sich das alles ausgedacht hatte, um mich zu veralbern, oder ob er wirklich daran glaubte. Jedenfalls klang es wie ein Haufen Unsinn.
Aber ich habe gehört, dass die Frau nach diesem Tanz wieder Kinder bekommen konnte.
Es scheint, als ob meine Gedanken immer wieder um tote Babys kreisen.
Das tote Baby der Tungusin.
Pings totes Baby.
Mein totes Baby.
Mein Baby kam nach dreitägigen Wehen tot auf die Welt. Es war der schlimmste Schmerz, den ich je erlebt habe, und in dem Chaos, das über die Stadt hereingebrochen war, war an keinen Arzt zu kommen.
Sie brachten es fort und begruben es irgendwo. Wir erwähnten es nie wieder. Ich war sechzehn damals, und danach bin ich keinem Mann mehr nahe gekommen, obwohl es durchaus Gelegenheiten gab. Aber ich war nicht mehr derselbe Mensch.
Nach etwa zwei Wochen kam ich durch ein Dorf mit einer alten Kirche. Die Häuser darum herum waren alle verfallen und überwuchert, aber die Kirche war intakt – in ihrer hölzernen Kuppel hing noch immer eine Glocke.
Auch die Tür ließ sich öffnen, und als ich eintrat, schlug mir ein Geruch aus Weihrauch und frischer Tünche entgegen.
Plötzlich rief jemand aus dem Keller etwas auf Russisch. Ich war zu überrascht, um mich an mehr
als an »bog« zu erinnern, was ihr Wort für Gott ist. Dann kam schon ein Mann mit etlichen Büchern im Arm die Treppe heraufgestapft. Er hielt verdattert inne, als er mich bemerkte.
Ich wäre nicht viel überraschter gewesen, einen chuchunaa anzutreffen, und tatsächlich sah er auch ein wenig wie ein Schneemensch aus, so riesig wie er war, mit seinem langen, weißen Bart.
Unser gemeinsamer Wortschatz war nicht allzu groß, aber wir konnten uns mit einer Art Pantomime verständigen.
Er war der Priester hier im Dorf, und hatte einen Helfer, eine Art Juniorpriester namens Yuri. Yuri hatte auch einen Bart, aber seiner war pechschwarz. Und er roch stark nach Zwiebeln. Ich schätzte ihn auf fünfzig und den Priester auf fünfundsiebzig.
Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, zu überleben – mit Boathwaite auf der einen Seite und den Tungusen auf der anderen – und dabei die Kirche so gut in Schuss zu halten. Vermutlich hatten sie sich einfach dort festgesetzt wie die Kletten.
Sie wohnten in einem kleinen Gehöft neben der Kirche. Ich stellte mein Pferd in die Scheune, und sie gaben mir zu essen: eine Art Kohlsuppe und etwas Wurst. Während ich aß, zeichnete ich ihnen meinen Weg auf der Tischdecke auf. Sie verdrehten die Augen, als ich ihnen zeigte, wo ich hinwollte.
Es war wirklich ein Jammer, dass wir uns nicht besser unterhalten konnten. Ich hatte so viele Fragen.
Nach dem Essen führten sie mich in das Kirchengewölbe hinunter und zeigten mir die Bücher, die sie dort gehortet hatten. Der alte Priester drückte mir ein Buch nach dem anderen in die Hand, murmelte etwas und sah mich dann scharf an, wie um zu sehen, ob ich verstanden hatte. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach, aber was immer es war, er war stolz darauf.
Yuri merkte, dass ich reichlich verwirrt war, und versuchte das Thema zu wechseln, aber der alte Priester wollte nichts davon wissen. »Sieh her«, schien er zu sagen. »Alles am rechten Platz. Hier die Marmelade, dort das Gelee.« Während er ein weiteres Buch oder Manuskript abstaubte.
Nach einer guten Stunde sperrten sie die Kirche ab, und wir gingen zurück ins Haus, wo Yuri eine Art Kräutertee aufbrühte. Wir konnten uns zwar nicht unterhalten, aber als ich da bei ihnen saß, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich. Ich wünschte, ich hätte ihnen dafür etwas geben können … Doch dann fiel mir ein, dass ich tatsächlich ein paar Worte in ihrer
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