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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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dann auf dem Pferd des anderen mit auf.
    Für einen Moment blickte er mit dem ausdruckslosen Gesicht eines Fremden zu mir hinunter. Seine Züge zeigten weder Freundlichkeit noch irgendeine Art Einvernehmen. Ich hätte nicht sagen können, was er in diesem Augenblick dachte. Es wäre schön, zu glauben, dass er mir einen Gefallen tat – für den, den ich ihm getan hatte. Aber wer weiß das schon. Keine Ahnung, ob die Jakuten überhaupt ein Wort für Mitleid haben.
    Das Bild seiner leeren Augen begleitete mich noch, als er sich längst abgewandt hatte. Er zog den Kopf ein, als die beiden unter einem Ast durchritten, der Schnee auf seinen Rücken rieseln ließ. Gleich darauf
waren sie verschwunden, und der Wald verschluckte den Klang der Hufe.
    Ich dachte daran, wie ich ihn auf der Brücke befreit hatte. Und ich dachte an jene Augenblicke auf der Jagd, in denen ich einfach aus einer Laune heraus nicht geschossen hatte oder Fische zurück ins Wasser geworfen hatte, weil sie zu klein waren. Was interessierten sie schon meine Motive?
    Natürlich wäre es tröstlich, zu glauben, dass Gerechtigkeit einem bestimmten Muster folgt, aber ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass dem nicht so ist. Mein Vater hätte die Tat des Jungen als jenen Teil seiner menschlichen Natur bezeichnet, dem Erlösung widerfahren würde. Nun, vielleicht war es ja so, wahrscheinlicher aber findet man eine Kaulquappe in einem Hagelkorn. Wenn ich zehn Karibus töte, sie ihres Fleisches und Fells wegen schlachte und dann ein Kaninchen aus der Schlinge befreie, nur weil ich Lust habe, seinen flauschigen Hintern in den Farnen verschwinden zu sehen – macht mich das vielleicht zu einem Franz von Assisi? Ich würde mir etwas vormachen, wenn ich das glaubte.
    Das Pferd leckte meine Hand. Meine Sachen lagen noch unter dem Baum, wo sie mich entdeckt hatten. Ich holte sie, dann zog ich meinen steifen Körper auf das Pferd und ritt Richtung Sonnenaufgang.

2
    ICH HIELT MICH fernab des Weges, den wir gekommen waren – für den Fall, dass Boathwaite einen Trupp schickte, um nach uns zu suchen. Das hieß zwar, dass ich langsamer vorankam, aber ich hatte ja den ganzen Sommer für den Heimweg.
    Nachts sah ich meinen Weg am Himmel, eingebettet in ein Muster aus Sternen. Ich hatte beschlossen, nicht den Fluss entlang, sondern direkt nach Südosten zu reiten, bis ich auf den Highway stoßen würde. Solange ich ungefähr in die richtige Richtung ritt, konnte ich ihn nicht verfehlen – er beschrieb eine gerade Line von Ost nach West. Und hatte ich ihn erst erreicht, lagen weniger als tausend Meilen zwischen mir und Evangeline. In sechs Wochen konnte ich zu Hause sein.
    An manchen Abenden nahm ich Shamsudins blau leuchtendes Glas aus der Tasche. Es war ziemlich durchgeschüttelt worden, aber hatte keinen Kratzer davongetragen. Einmal schlief ich ein, während ich es hielt. Ich träumte schlecht, und meine Stirn und
Wangen brannten am nächsten Tag, als ob ich zu lang in der Sonne gewesen wäre.
     
    An einem anderen Abend fing ich einen Zander und fand vier Enteneier in einem Nest. Ich machte ein Feuer und kochte eines der Eier mit dem Fisch.
    Über mir kamen Kraniche von ihrem Winterrevier im Süden zurück. Ihre langen, weißen Körper schienen rosig im Abendlicht. Den Tungusen sind diese Vögel heilig. Sie gebrauchen ihre Knochen als Kalender, markieren darin die Mondphasen. Die Schamanen sagen, sie reiten sie hoch bis zum neunten Himmel, wo die Geister leben und Schabernack mit den Seelen der Menschen treiben.
    Für mich sind das alles Märchen, aber ich habe einmal gesehen, wie ein Schamane eine kranke Frau geheilt hat. Eine Tungusin, die eine Fehlgeburt gehabt hatte, wodurch ihre Gebärmutter in Mitleidenschaft gezogen worden war.
    Der Schamane trug einen schweren Umhang aus Fellen mit klingenden Metallperlen daran. Die Perlen bildeten eine Sternenkarte – lange, bevor es Bücher gab, waren diese Umhänge ein Himmelsatlas gewesen. Er tanzte fast eine Stunde um die Frau herum, bis sich auf dem Fell seiner Trommel ein merkwürdiges Netz ausbreitete, das wie Blut aussah.
    Ich konnte mich nicht direkt mit dem Schamanen
unterhalten, aber ich befragte ihn später mit Hilfe eines halbtungusischen Führers.
    Der Schamane sagte, er hätte während des Trommelns gespürt, wie er sich in die Lüfte erhob. Wie die Luft um ihn dick und wässrig wurde. Er sagte, es sei gewesen, wie sich im Nebel zu verlaufen, und hin und wieder hätte sich der Nebel gelichtet und er sei

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