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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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abseits des Weges.

    Es war die bisher mildeste Nacht. Das Land streifte den Winter ab wie ein nasser Hund, der sich trocken schüttelt. Hin und wieder fiel in großen Haufen Schnee von den Ästen und machte dabei ein Geräusch wie Schritte. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich eine Ladung fallen hörte.
    Einige Stunden vor Sonnenaufgang dann setzte ich mich unter einen Baum und döste ein. Als ich die Augen wieder öffnete, war es noch dunkel. Und ich spürte eine Klinge an meinem Hals und eine Hand auf meinem Mund. Die Hand roch nach Erde und Karibu-Fleisch.
    Das Messer an meinem Hals zwang mich auf die Beine. Ich war mir zwar nicht bewusst, Angst zu haben, trotzdem machte ich mir in die Hose, so wie damals im See. Langsam breitete sich ein wenig Licht über den Himmel aus, aber es war kein großer Trost, zu meinem Kinn herabschielen und sehen zu können, dass der Kerl, der mich erwischt hatte, Tolyas Armbanduhr trug.
    Er führte mich zurück zum Weg und stieß dann einen leisen Pfiff aus. Pferde und weitere Männer tauchten zwischen den Bäumen auf.
    Sie unterhielten sich leise in einer kehligen Sprache, die ich für Jakutisch hielt. Ich hatte nie viel mit den Jakuten zu tun gehabt, aber ich wusste, dass sie ein zähes Volk von Pferdezüchtern waren. Die Männer
hatten dunkle, flache Gesichter wie Kasachen und trugen ein ganzes Sammelsurium von Kleidungsstücken. Ich erkannte ein paar Mützen und Jacken wieder, die den Wachen gehört hatten, und obwohl sie dick eingepackt waren, konnte ich immer noch die Frauen unter ihnen ausmachen.
    Ich kniete im Matsch und hörte ihrem Geschnatter zu. Es klang wie eine Unterhaltung, die man vielleicht auf einem Markt führte, nur dass sie offenbar um mich feilschten. Ich konnte mir denken, was sie sagten: Verschonen oder nicht verschonen? Hier umbringen oder dort drüben? Wer darf ihre Sachen behalten?
    Meine Hände fühlten sich wund und feucht an. Ich hatte einen Handschuh verloren, als ich aus dem Wald gestolpert war, aber darauf kam es ja nun auch nicht mehr an.
    Von Zeit zu Zeit schaltete sich der Mann, der mir das Messer an den Hals hielt, in die Unterhaltung mit ein. Und jedes Mal, wenn ich seine schrille, hohe Stimme in meinem Ohr hörte, bekam ich es mit der Angst zu tun, denn er drückte dann fester mit dem Messer zu, und ich musste meinen Kopf zurücklegen, damit er mich nicht schnitt.
    Ein schwacher blauer Schimmer erhellte inzwischen den Himmel von Osten her. Makelloses arktisches Blau. Und plötzlich wusste ich, dass dahinter nichts auf mich wartete. Keine andere Welt. Keine
Mutter, kein Vater, kein Charlo, kein Shamsudin. Keine Ping. Und doch ertappte ich mich dabei, wie ich die Worte des Vaterunsers murmelte, als wären sie etwas zum Draufbeißen, damit ich nicht vor Schmerzen schrie.
    Da tauchte plötzlich ein anderer Mann neben mir auf. Er wischte grob den Schmutz aus meinem Gesicht, dann sagte er etwas zu dem Mann mit dem Messer – und unvermittelt lockerte sich der Griff um meinen Hals, drückte das Messer nicht länger in meine Luftröhre, und ich fiel bäuchlings zu Boden.
    Dort lag ich dann, den erdigen Geruch von Pilzen in der Nase, während sie über mir hitzig diskutierten. Nach einer Weile rappelte ich mich auf – niemand hinderte mich daran – und erblickte den Tungusenjungen, den Tolya gefangen hatte. Der Mann, der mit ihm stritt, wandte sich jetzt zornig ab.
    Der Junge hatte mich gerettet. Er begegnete keine Sekunde meinem Blick oder zeigte in irgendeiner anderen Weise, dass er mich kannte.
    Ich sah mich um. Eine Frau mit rotem Gesicht stillte ein Baby. Auf einem Pony neben ihr saß ein blasshäutiges Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Ihre Augen waren zu hell für eine Einheimische, und sie hatte blondes Haar, das in Locken aus der buschigen Fuchsfellmütze fiel. Beinahe hätte ich einen Laut der Überraschung ausgestoßen, doch sie sah direkt
durch mich hindurch, mit dem steinernen Blick eines Schützen. Tolyas Marienbild steckte am Aufschlag ihrer Jacke.
    Schließlich gingen die Jakuten einer nach dem anderen zu ihren Pferden, und ich sah zu, wie sie davonritten. Die Frau mit dem Baby ritt hinter dem Mann, der Tolyas Jacke trug. Das weiße Mädchen warf keinen Blick zurück.
    Nach einer Weile waren nur noch zwei von ihnen mit ihren Pferden auf der Lichtung, der Junge und der Mann mit dem Messer. Der Junge tätschelte die Flanke seines Pferdes, aber anstatt sich in den Sattel zu schwingen, drückte er mir die Zügel in die Hand und stieg

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