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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Sprache besaß.
    Ich holte den Erinnerungsstein aus meiner Tasche, legte ihn auf den Tisch und zeigte ihnen das Mädchen aus Polyn.

    Sie sahen es sich bestimmt ein halbes Dutzend Mal an. Sie waren geradezu verrückt danach. Der alte Priester ganz besonders – jedes Mal schlug er Yuri auf den Rücken und rief: »Lyudi budushchevo!« Und er lachte, als ob es der beste Witz der Welt wäre.
    Ich freute mich, ihn so heiter zu sehen, doch dann wurde mir klar, dass er das, was er sah, für ein Abbild der Gegenwart hielt, ein aktuelles Bild der Stadt. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich vermutlich denselben Eindruck gewonnen.
    Sie saßen hier in ihrem Außenposten, bewachten ihren Schatz heiliger Bücher, warteten auf Nachricht aus der Welt dort draußen – und nun sah es ganz danach aus, als hätte ich ihnen frohe Kunde gebracht.
    Also sagte ich: »Ihr versteht das falsch. Das ist ein Bild der Vergangenheit. Dieses Mädchen ist tot, und die Stadt sieht jetzt ganz anders aus. Ich bin dort gewesen. «
    Aber meine Worte waren bloß Schall und Rauch für sie. Sie glaubten, was sie glauben wollten. Für sie war ich der Vorbote großer Veränderungen. Schon bald würden die Dorfbewohner wiederkommen. Betten würden zum Lüften vor den Türen stehen. Schaufeln würden die Erde in lange vernachlässigten Gärten umgraben. Die Kirchenglocke würde die Gemeinde zum Gottesdienst rufen. Und man
würde dem alten Priester einen Orden an die Brust heften, dafür, dass er so gut auf das Archiv achtgegeben hatte.
    Sie machten mir ein Bett auf dem Sims über dem Kachelofen, aber es war zu warm und zu weich für mich, um da oben gut zu schlafen, und es ließ mir keine Ruhe, dass ich sie getäuscht hatte.
    Am nächsten Morgen waren sie immer noch guter Dinge. Sie gaben mir Weizengrütze zum Frühstück und wollten noch einmal den Erinnerungsstein sehen. Also reichte ich ihn dem alten Priester und sagte, er könne ihn behalten. Er versuchte, mir im Gegenzug ein Buch aufzudrängen, aber ich weigerte mich, es anzunehmen.
    Nach dem Frühstück begleiteten mich die beiden zum Rand des leeren Dorfs und küssten mich dreimal zum Abschied, und während ich davonritt, sah ich mindestens ein halbes Dutzend Mal zurück, und sie standen noch immer da und winkten mir nach.
     
    Langsam wurde es Frühling. Man sah kaum Schnee mehr, und als es einmal mittags richtig warm wurde, beschloss ich, zu baden. Ich band das Pferd am Flussufer fest und zog mich aus. Meine Füße waren so blass, dass sie fast bläulich wirkten.
    Obwohl der Fluss eigentlich seicht war, war er angeschwollen und die Strömung so stark, dass ich fast
hinfiel, als ich hineinstieg. Ich stemmte meine Beine gegen einen Felsen, während das Wasser meine Knie umstrudelte, dann ging ich in die Hocke, um meinen ganzen Körper einzutauchen. Die Kälte ließ mir den Kopf dröhnen.
    Als ich einigermaßen sauber war, wusch ich meine Kleider und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Dann lag ich am Ufer und saugte die Hitze auf wie eine Eidechse. Ich kämpfte gegen die Müdigkeit an, aber das Geräusch des Flusses lullte mich ein. Ich musste eine Stunde oder so geschlafen haben. Als ich aufwachte, war meine Sicht vom Sonnenlicht ganz verschwommen.
    Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren: dort das Pferd, das grüne Triebe von einem Baum rupft, dort meine feuchten Kleider, und hier ich, nackt, die Knöchel mit getrocknetem Schlamm bedeckt, der wie ein Paar Socken aussieht.
    Und plötzlich, über dem Rauschen des Flusses, hörte ich ein Brummen, ganz, ganz schwach, aber immer lauter werdend. Ich blickte auf – und sah am östlichen Himmel, vielleicht eine Viertelmeile hoch, das silberne Blitzen eines Flugzeugs.
    Ich schrie mir fast die Kehle wund und wedelte hektisch mit meinen Kleidern, während es über mich hinwegzog. Dem Flugwinkel nach zu urteilen, schien es aus dem Norden zu kommen, vielleicht aus Alaska.
    Als ich endlich auf die Idee kam, mein Gewehr abzufeuern, war die Maschine schon am südwestlichen Teil des Himmels. Ich gab vier oder fünf Schüsse ab, doch es machte nicht den Eindruck, als hätte man mich gehört – das Flugzeug glitt wie ein winziger silbriger Fisch ins tiefe Himmelsblau.
    Aber als es hinter den Bäumen verschwand, war ich mir sicher, zu wissen, wohin es flog.

3
    ICH BRAUCHTE ZWEI TAGE, um das Lager zu erreichen. Ich ritt wie eine Verrückte und erinnere mich nicht, dabei irgendetwas gegessen zu haben. Manchmal stieg ich ab und lief neben dem

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